Im ersten Leben Arbeitsrechtler, im zweiten Yogalehrer. Roderich Wahsner in seinem Unterrichtsstudio

Wenn Roderich Wahsner in der Bremer Dellbrückstraße dienstags um 15 Uhr seine 65+-Gruppe zur Yogastunde begrüßt, sieht man einen Mann, der mit seinem Beruf glücklich und alt geworden ist. Mit ruhiger, aber kraftvoller Stimme leitet er seine eben nicht mehr jungen Schüler/innen durch die Stunde, weiß um individuelle Schwachpunkte, korrigiert, gibt Hilfestellung, als hätte er in 50 Berufsjahren nichts anderes gemacht. In der Heldenstellung scheint er mit dem Boden unter seinen Füßen verwurzelt. Er schwankt nicht, zittert nicht, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, die er auch unter seinen Schüler/innen verbreitet. Die atmen, auf dem Rücken liegend, tief ein und aus, beobachten nach Ansage ihren Atem, beginnen die Arme nach Anleitung zu bewegen, zu strecken, später die Beine, um so den Rücken zu spannen und entspannen. Dann wird der Körper in der Bauchlage bearbeitet, immer bis in die Tiefenmuskulatur aller Muskeln und Organe hinein. Gelegentlich macht sich in der kleinen Runde ein Seufzer Luft.

Ein zweites Leben

Rechts neben dem großen Fenster zum Garten steht in dem pastellorange gestrichenen Raum ein kleiner Tisch, auf ihm das Bild von Swami Rama, Roderich Wahsners indischem Lehrer oder Guru, wie man unter Yogis sagt. Swami Rama lebt heute nicht mehr. Seinem deutschen Schüler hat er vor einem knappen Vierteljahrhundert den Weg in ein zweites Leben eröffnet. Sein erstes Leben verbrachte Roderich Wahsner mit seiner Arbeit als Dozent für Arbeitsrecht an der Universität Bremen. Und wenn noch Zeit blieb, widmete er sie der Familie. Aber die kam oft zu kurz in seinem ersten Leben, sagt Roderich Wahsner heute, 23 Jahre nachdem sein zweites Leben begonnen hat. Es begann mit einer Operation. Mit 50 Jahren wurde dem Doktor des Arbeitsrechts ein hühnereigroßer Tumor aus dem Gehirn entfernt. Als er anschließend auf der Intensivstation erwachte, den schweren Eingriff überlebt hatte, beschloss er sein Leben zu ändern. "Es war wie eine zweite Kindheit, eine zweite Jugend, ich wurde ein zweites Mal erwachsen", sagt Roderich Wahsner, inzwischen 73 Jahre alt. In seinem zweiten Leben wurde er Yoga-Lehrer.

"Ist das noch normal, was der macht", fragten sich die Kolleg/innen an der Uni gelegentlich, nachdem er schrittweise an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte. Für den damals noch angehenden Yoga-Lehrer war es normal. "Es war in mir drin", versucht er zu erklären, warum er sich dem Yoga zuwendete. Nach der Operation musste er vieles erst wieder lernen, seine Körperkoordination war durch den Eingriff mehr oder weniger außer Kontrolle. Zunächst versuchte er, sie mit Tanzen wieder ins Gleichgewicht zu bekommen. Erst in einer freien Frauentanzgruppe. Später tanzte er argentinischen Tango. Doch wirklich hängen blieb er beim Yoga. Daran konnten ihn auch nicht mehr seine Erinnerungen an einen Indienbesuch 1983 hindern: "Als ich mir damals in Poona den Ashram der Osho-Sekte ansah, war ich ziemlich abgeschreckt."

Heute trägt er ein gelbes Wolltuch um die Schultern und wirkt selbst ein bisschen wie ein Guru. Aber sein Senioren-Yoga ist weniger ein Ashram für Seelenverwandte, vielmehr ein Ort der Besinnung. Vor allem: Längst ist Yoga für Senior/innen keine Nische mehr. Fast alle Yogaschulen bieten heute spezielle Ausbildungen an.

Bei sich ankommen

Wahsners vier Über-65-Jährigen kommen für eineinhalb Stunden bei ihm bei sich an, schnacken ein wenig, bis sie auf ihren Yogamatten ganz in sich gehen, der Stimme ihres Lehrers mit Atem und Körper zugewandt. Der ruht im Yogi-Sitz neben dem Bild von Swami Rama und unterrichtet. Und nur wenn man Roderich Wahsner genau betrachtet, fallen die abfallende rechte Schulter und der nach rechts geneigte Kopf auf. Folgen des Tumors. "Der schiefe Kopf gehört zu mir, das ist authentisch", sagt der Yoga-Lehrer.

Am Abend gibt er noch einen weiteren Kurs. Und einmal in der Woche unterrichtet er Yoga in Theorie und Praxis auch am Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Bremen. Da finden das jetzt alle ganz normal, genauso wie die Ex-Kollegin unter seinen 65+-Schüler/innen, die gerade ihr rechtes Bein auf dem Rücken liegend durchstreckt, tief einatmet und sich dann ausatmend vollends entspannt. Petra Welzel