Geschichtsvorlesung an der Uni Leipzig: An deutschlandweit über 60 Hochschulen sind rund 37000 Senior/innen eingeschrieben

Waltraud Steffens erinnert sich noch genau an jenen sonnigen Herbstmorgen, an dem sie aus der Frühstückszeitung von dem Angebot der Technischen Universität Berlin (TU) erfuhr: Seniorenstudium mit eigenem Abschluss. "Das ist es", sagte sich die Endfünfzigerin, die am Tag zuvor ihren Job verloren hatte. In ihrem Alter neue Arbeit zu finden, war für die Bauleiterin so gut wie aussichtslos. Warum also nicht zurück in den Hörsaal? "Ich wollte mich mit dem beschäftigen, was in meinem Berufsalltag immer zu kurz gekommen war: Soziologie, Philosophie, Kunst, Pädagogik." Und ein Studiengang mit Hausarbeiten, Referaten und Noten war genau das Richtige. Zwei Monate später immatrikulierte sich Waltraud Steffens an der TU.

Das Seniorenstudium liegt im Trend. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen aufs Rentenalter zu. "Wenn Keller, Dachboden und Garten auf Vordermann gebracht sind und die agilen Großeltern langsam auch den Enkeln auf die Nerven gehen, suchen viele Ältere nach einer sinnvollen Beschäftigung", sagt Sylvia Gregarek von der TU Berlin.

An vielen Universitäten können sie sich als Gasthörer einschreiben, an einigen gibt es spezielle Angebote für Ältere wie an der TU. Das Seniorenstudium BANA (Berliner Modell: Ausbildung für nachberufliche Aktivitäten) wurde in den 80er Jahren für Renter und Frauen nach der Familienphase entwickelt. Für 60 Euro im Semester können Menschen ab 45 in den Kernfächern Stadtentwicklung, Umwelt oder Gesundheit & Ernährung nach einem eigenen Lehrplan studieren, auch ohne Abitur. Das Studium besteht aus einem Mix von speziellen BANA-Kursen und gemeinsamen Pflichtstunden in den Kernfächern. Vier Scheine sind Pflicht.

Gemeinsam lernen

"Wir wollen das gemeinsame Lernen von Jung und Alt fördern", erläutert BANA-Leiterin Gregarek. Viele Ältere haben ein Studium oder eine Ausbildung hinter sich, sie bringen Erfahrungen ein, von denen die Jüngeren profitieren können. Umgekehrt lernen sie selbst viel über den Nachwuchs: Sie erfahren, dass ohne Internet nichts mehr geht, selbst Thesenpapiere oder Klausurvorbereitungen laufen mittlerweile online. Sie erleben, wie verschult der Wissenschaftsbetrieb in der Zeit von Bachelor und Master heute ist und was Jüngere über aktuelle Themen denken.

Waltraud Steffens wählte den Studiengang Stadtentwicklung. Drei Tage die Woche radelte sie zur TU. Besuchte Vorlesungen und Seminare. Diskutierte mit Älteren in den BANA-Veranstaltungen, debattierte mit Jungen in den regulären Seminaren. In ihrem ersten Seminar zum Thema "Zukunft der Arbeit" etwa wurde über Grundeinkommen gestritten. "Es war spannend, dass die Position eben keine Frage der Generation ist, sondern der Werte und Einstellungen des Einzelnen - egal ob alt oder jung."

Steffens genoss die Zusammenarbeit mit den Jüngeren. Die jungen Kommilitonen bereicherten die Kooperation mit frischen Ideen. Und bei historischen Themen wurden die Älteren gelöchert: Wie war das eigentlich 1968? Steffens: "In einem Seminar haben uns die Studenten ausgefragt, warum wir eigentlich studieren." Der Funke sprang über: Einige überzeugten die Schilderungen so sehr, dass sie ihren Eltern zu Weihnachten einen Gutschein für die 60 Euro BANA-Studiengebühren schenkten - als Anreiz.

Damian Cvetkovic hat im Laufe seines Soziologiestudiums einige Seniorstudenten erlebt. "Viele erzählen gern aus ihrem Leben", sagt der 29-Jährige. "Das fand ich toll, weil wir uns sonst sehr auf die Wissenschaft konzentrieren." Andererseits nerve es manchmal ganz schön, wenn die Älteren nicht zu stoppen sind. "Dann bleibt die Wissenschaft auf der Strecke."

BANA-Leiterin Gregarek nickt. Sie weiß, dass es im Studienalltag belastend für die jungen Studierenden sein kann, wenn Senioren mit Anekdoten von früher die wissenschaftliche Debatte bremsen. Sie selbst rät ihren Seniorstudenten: Bitte nicht geballt auftauchen und nicht alle in die erste Reihe setzen. "Die Studienbedingungen sind für die Jungen nicht einfach. Darauf müssen die Älteren Rücksicht nehmen." Doch insgesamt, so Gregarek, sei das Feedback von beiden Seiten sehr positiv.

Man verliert den Bammel

Waltraud Steffens ist jetzt 62 und hat ihren Abschluss in der Tasche. Mit der Hochschule aber ist sie noch nicht fertig. Als Tutorin begleitet sie Erstsemester beim Unistart, sie ist heute noch Gasthörerin. Von den Erfahrungen mit Referaten profitiert die Gewerkschafterin heute noch, wenn sie etwa Wochenendseminare für die IG Bau organisiert. Steffens lacht. "Ich habe nicht mehr so viel Bammel, vor Gruppen zu sprechen, vor allem vor Funktionären." Und das Lernen geht weiter: Steffens ist Lesepatin an einer Berliner Brennpunktschule, im Sommersemester will sie sich daher für "Deutsch als Zweitsprache" anmelden. Anja Dilk