Alarm bei Amazon

Das Lager in Leipzig. An Spitzentagen rollen hier 300 vollgepackte LKWs raus

von Andreas Hamann

Streiks vor Weihnachten sind für Händler der Horror schlechthin. Schließlich wird zu keiner Zeit mehr Umsatz eingefahren als jetzt. Ernsthaft vor Streiks sorgen muss sich momentan der weltweit führende Online-Händler Amazon. Warum? Bei dem Internet-Riesen herrscht Dumping und das regt immer mehr Betroffene auf. "Gerade sind die vorgegebenen Stückzahlen an einigen Standorten noch einmal erhöht worden", sagt Verena Frank, die das ver.di-Betreuungsteam für Amazon koordiniert. "Das geht weit über die Leistungsgrenzen der Kollegen hinaus."

Längst ist der virtuelle Buchhändler zu einem Internet-Kaufhaus mit breitem Sortiment geworden. In Deutschland verfügt er aktuell über acht Läger an sieben Standorten. Betrug der Umsatz 2010 noch rund 1,8 Milliarden Euro, wird er von der Fachpresse für dieses Jahr auf vier bis fünf Milliarden geschätzt. Ein rasanter Zuwachs, doch die rund 8400 Stammbeschäftigten werden nicht nach Tarifvertrag bezahlt. Von den tausenden Saisonkräften, die in Stoßzeiten angeheuert werden, ganz zu schweigen. Und Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind bei Amazon Fremdwörter.

Zahlen nach Lust und Laune

Schon im Oktober müssen in der Deutschland-Zentrale die Alarmglocken geschrillt haben, als ver.di nach dem Standort Leipzig auch für die beiden Standorte im hessischen Bad Hersfeld eine Tarifkommission bildete und die ver.di-Vertreterin Mechthild Middeke bei einer öffentlichen Diskussion Arbeitsniederlegungen in der Vorweihnachtszeit für "durchaus möglich" hielt.

Vier Wochen später erklärte ihr Kollege Heiner Reimann bei einer Aktion vor dem Versandzentrum die Absicht von ver.di, "im äußersten Fall auch Warnstreiks auszurufen". Daran änderten kurzfristige Lohnerhöhungen von bis zu 3,1 Prozent nichts.

Druck auf Amazon war im November auch in Leipzig zu spüren. Bei einer Umfrage sprachen sich 99,7 Prozent der rund 500 Mitglieder im Verteilzentrum für einen Tarifvertrag aus. Zu Aktionen erklärten sich fast alle bereit, rechnerisch waren es genau 93,7 Prozent. "Wir wollen nicht streiken, aber wenn wir dazu gezwungen sind, stehen die Beschäftigten dahinter", schätzt Jörg Lauenroth-Mago ein. Er leitet den ver.di-Fachbereich Handel für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Derzeit bezahle das Unternehmen nur nach "Lust und Laune", sagt er.

Die Geschäftsführungen der beiden Versandzentren stehen unter Zugzwang. Sie sind aufgefordert, mit ver.di über die Anerkennung der regionalen Einzelhandelstarifverträge zu verhandeln. Eine erste Sondierung mit ver.di fand Ende November in Fulda statt. In Leipzig schlug die Gewerkschaft den 10. Dezember als spätesten Verhandlungstermin vor.

Es geht um viel Geld

Bei dem Konflikt, der bald eskalieren könnte, geht es um viel Geld, denn das Einstiegsgehalt bei Amazon liegt zum Beispiel in Sachsen mit 8,75 Euro knapp zwei Euro unter Tarif. Nachtzuschläge werden erst ab Mitternacht statt schon ab 20 Uhr gezahlt, Sonderzahlungen gibt es keine; allein damit spart Amazon rund 2000 Euro jährlich pro Kopf. Doch Ärger macht nicht nur die Bezahlung. In den neueren Versandzentren Rheinberg, Werne, Graben, Koblenz und Pforzheim, in denen es noch keine Betriebsräte gibt, setzt ver.di deshalb alles daran, viele Mitglieder zu gewinnen. Eine solide Basis wird gebraucht. Wie in Leipzig und Bad Hersfeld sollen auch Vertrauensleute und Aktivenkreise die Probleme aufgreifen, die allen am meisten zu schaffen machen.

"Kritisiert werden kurzfristig angeordnete Überstunden, Arbeitshetze und eine oft als respektlos empfundene Behandlung durch Vorgesetzte", berichtet aus NRW die für Rheinberg zuständige ver.di-Expertin Sabine Busch. "Dann der Pausenklau durch lange Wege im Betrieb und das Passieren der Kontrollschleusen, die an Flughäfen erinnern. Da die Beschäftigten körperlich hart arbeiten, belasten sie gerade die knappen Pausen sehr."

Bei sechs Blitzaktionen zum Schichtwechsel haben Busch und ihr Team die Beschäftigten vor Ort informiert. Die Resonanz war groß, der Mitgliederzuwachs auch. Im Januar wird es soweit sein: Dann findet in Rheinberg die erste Versammlung zur Wahl eines Betriebsrates statt. Im bayerischen Graben wurde die Wahl schon Ende November eingeleitet. Das gewerkschaftliche Amazon-Netzwerk wird weiter geknüpft - und verspricht noch viele Überraschungen.