"Von Null auf Achtzig"

Meer, Strand und Palmen sind weit weg. In der dunklen Cafeteria der TUI-Zentrale, Europas größtem Touristikunternehmen, will so gar kein Urlaubsgefühl aufkommen. Und doch sitzt Marvin ganz entspannt in einer der kargen Sitzecken des Mutterkonzerns in Hannover. Der Tag ist für ihn so gelaufen wie geplant. Der Fototermin vor der Berufsschule nebenan, die Mittagspause mit dem Kollegen und das Interview in den Räumen des Betriebsrats, alles hat er zeitlich perfekt aufeinander abgestimmt. Jetzt bleibt sogar noch eine halbe Stunde für Kaffee und etwas Plauderei. Danach macht Marvin sich, wieder allein, auf den Weg zur letzten Sitzung des Tages. Alles scheint reibungslos ineinander zu greifen. Stress kommt trotz der vielen Termine nicht auf.

Sein unaufgeregtes Wirken schätzen viele an ihm. Als Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) in Hannover und seit Mai auch als Vorsitzender der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung (GJAV) des Unternehmens weiß der ausgelernte Reiseverkehrskaufmann genau, was er will. Sein Herzensthema ist die Übernahme der Auszubildenden. Bis dahin sei es zwar noch ein langer Weg, aber in den laufenden Tarifverhandlungen gab es immerhin schon einen Teilerfolg: Die Auszubildenden erhalten monatlich einen festen Grundbetrag von 75 Euro mehr und 4,7 Prozent mehr Gehalt noch oben drauf. Dass Marvin "richtig Gas gegeben" und somit den Tarifforderungen ordentlich Nachdruck verliehen hat, sagt Michael Pönipp, der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrates der TUI Deutschland GmbH. "Die Jugend hier im Haus ist aufgrund seiner Initiative zu 80 Prozent organisiert. Das macht uns schon stolz."

Besser als erwartet

Aber wie bekommt man so etwas hin? Marvin zuckt mit den Schultern. Diese Frage hat sich ihm nie wirklich gestellt. Er wusste nur, dass sich etwas bewegen muss. Also hat er zusammen mit der JAV einen Info-Nachmittag veranstaltet, über die drohende Zusammenlegung zweier Betriebsteile berichtet und die Werbetrommel für ver.di gerührt. Am Ende wurden die Mitgliedsformulare verteilt. "Aus dem Stand waren unsere Azubis zu achtzig Prozent organisiert", sagt Marvin und ist noch jetzt ganz begeistert darüber: "Von Null auf Achtzig sozusagen!" Für den großen Blonden mit der blauen Jacke ist es enorm wichtig, die Jugend, für die er sich stark macht, in seinem Rücken zu wissen. Schließlich will er beim Arbeitgeber "nicht mehr betteln, sondern in den Verhandlungen fordern" können. Auch diese Sache ist so gelaufen wie geplant. Wohl sogar besser, als Marvin es selbst erwartet hatte.

Aber es läuft nicht immer alles rund. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt Marvin von seinen Anfängen bei der JAV im Jahr 2010. Da sei er schon mal übers Ziel hinaus geschossen, wollte zu viel auf einmal. Ähnliches erzählt Mark Muratovic, freigestellter Betriebsrat, der die JAV betreut: Marvin brenne für die Arbeit in der JAV und die gewerkschaftliche Idee. Aber dieses hohe Engagement führe manchmal eben zu "unnötigen Konfrontationen", sagt Muratovic. Marvin ist sich dieser Kritik durchaus bewusst und nimmt sie auch ernst. Aber er sagt auch, dass er in den letzten vier Jahren schon viel dazu gelernt habe.

Die Mitarbeit in der JAV war für ihn von Anfang an selbstverständlich. Der Sprung vom Schulsprecher zur Jugend- und Auszubildendenvertretung logisch. Denn schon mit Beginn seiner Ausbildung im Jahr 2009 ging dem gradlinigen Marvin die Übernahmesituation ordentlich gegen den Strich. Doch damals gab es eben kaum Gewerkschaftsmitglieder bei der TUI. Inzwischen hat Marvin sogar einen Jugend-Aktivenrat ins Leben gerufen. Elf Vertrauensleute für die Jugend gibt es nun in Hannover. Neun Azubis und zwei JAV-Mitglieder kümmern sich um die Sorgen der TUI-Jugend.

Vom Schulsprecher zum Jugend- und Auszubildendenvertreter

Und Marvin? Der ist nicht ihr Vorsitzender. Und er scheint darüber ganz froh zu sein. Mal wieder nur einfaches Mitglied eines Gremiums und nicht der führende Kopf zu sein, auch wenn er tatsächlich viele Aktionsideen einbringt. Giovanna Viapiano aus dem Jugend-Aktivenrat ist im zweiten Lehrjahr zur Touristikkauffrau und sagt über Marvin: "Das ist kein Wichtigtuer, der hat trotzdem noch ein Leben!" Trotzdem? Trotz all der Ämter und des normalen Jobs, den Marvin bei der TUI ja auch noch habe.

Auspowern beim Schwimmen

Marvin arbeitet im Beschwerdemanagement der TUI, und sieht auch hier das Positive. Die schwierige Aufgabe schule die Rhetorik, und die wiederum kann Marvin in den Gesprächen mit dem Arbeitgeber gut gebrauchen.

Mit dem neuen Amt als GJAV-Vorsitzender wird Marvin nun zu 50 Prozent freigestellt. "Der Spagat zwischen meinem Job und der JAV-Arbeit ist riesig und tut auch ganz schön weh", sagt Marvin. Die grundsätzliche Lust an beiden Aufgaben scheint das für ihn allerdings keineswegs zu schmälern. Daher ist Marvin seinen Team-Kollegen/innen sehr dankbar dafür, dass sie seine Abwesenheit auffangen. Das sagt er so, aber es klingt auch in vielen kleinen Nebensätzen an. Was Marvin selbst nicht verrät: Er kommt immer mal wieder samstags außerhalb des Dienstplans zur Arbeit, um mehr zur Arbeit seines Teams beitragen zu können. Das erzählt Mark Muratovic. Darauf angesprochen wirkt Marvin überrascht. Ihm sei es einfach wichtig, weiterhin in seinem Bereich verankert zu sein. Das zeige ihm, welche Probleme im Arbeitsalltag auftauchen.

Aber auch ein unermüdliches Arbeitstier wie Marvin muss mal abschalten. Ganz bewusst hat er sich deshalb eine kleine eigene Wohnung in Hannover gesucht und keine WG. Da hat er die Abende für sich. Wenn er will. "Für eine Freundin hätte ich, glaube ich, momentan keine Zeit", sagt Marvin und erzählt, dass er sich als Ausgleich zum Job gerne beim Schwimmen auspowert. Und wenn er den Kopf mal so richtig frei bekommen will, fährt Marvin nach Herford. Dort ist er aufgewachsen. In der beschaulichen Stadt wohnen noch viele Freunde von Marvin, die mit der TUI nichts zu tun haben. Die Themen kreisen dann mal nicht um Arbeit und Gewerkschaft.

Die Welt, die Marvin mit 16 schon zu eng schien, und aus der er mit 17 fortgezogen ist, bietet ihm heute einen Ausgleich. In seiner alten Heimat findet Marvin Entspannung - ebenso wie in der großen weiten Welt. Er ist schließlich nicht umsonst Reiseverkehrskaufmann geworden. Und so ist der nächste Urlaub auch schon geplant: Thailand. Das Reisen und die Neugier auf neue Welten sind vielleicht Marvins größte Leidenschaften.

Der Blick in die Zukunft fällt Marvin nicht schwer. Er denkt ohnehin langfristig und geht alle seine Projekte ebenso organisiert an wie die heutige Tagesplanung. Das Thema Übernahme aller Auszubildenden wird Marvin auch weiterhin nicht aus dem Blick verlieren. Da will er langen Atem beweisen. Und zusammen mit dem Jugend-Aktivenrat hat er dazu auch schon einen kreativen Aktionsplan ausgearbeitet, von dem allerdings nicht allzu viel verraten werden kann. Eins aber ist so gut wie sicher: Auch das wird wieder etwas sein, das nach Marvins Plan verlaufen wird.


Marvin in aller Kürze

  • Marvin Reschinksky wird am 27. Oktober 1992 geboren: ein Skorpion, der auch mal zustechen kann.
  • In Hannover beginnt er 2009 seine Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann bei der TUI Deutschland GmbH.
  • In seiner Geburtsstadt Herford hält Marvin 2010 nichts mehr, Umzug nach Hannover in eine eigene Wohnung.
  • Seit Juli 2012 arbeitet Marvin im Beschwerdemanagement bei der TUI in Hannover.
  • Seit Mai 2014 ist er Vorsitzender der Gesamt-Jugend- und Auszubildendenvertretung.
  • Am Anfang des 3. Berufsjahres verdient Marvin netto 1400 Euro.
  • Eine Freundin kann sich der 1,92 Meter große Blonde zeitlich gerade nicht leisten ...