Ausgabe 04/2015
Bleiben Sie dran!
Bleiben sie dran!
Refugee Radio Network ist die Stimme der Flüchtlinge. In dem Hamburger Internetradio können Migrant/innen aus Afrika und dem Nahen Osten das sagen, was andere Medien nicht veröffentlichen
Die Radiomacher im Hamburger Studio - mit Nachwuchs: Larry Moore Macauley, Sammy Ohjay mit seinem Sohn Diamond und Asuquo Udo (von links)
"Der Polizist aus Hannover, der Mitte Mai einen Flüchtling brutal misshandelt hat, war schon im vergangenen Jahr wegen eines ähnlichen Übergriffs aufgefallen. Wir Flüchtlinge wussten davon, haben auch die deutschen Medien informiert. Aber keine Redaktion hat darüber berichtet." Larry Moore Macaulay hat oft die Erfahrung gemacht, dass europäische Medien verzerrt, falsch oder gar nicht berichten, wenn es um Flucht und Flüchtlinge geht. Deswegen hat der 41-jährige Nigerianer "Refugee Radio Network" gegründet. RRN ist ein globales Internetradionetzwerk von Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung. "Wir sind schließlich die Experten", sagt er. "Wir kennen die Situation in unseren Herkunftsländern mit Kriegen, Epidemien und Dürrekatastrophen. Und wir kennen die Diskriminierung und Ausgrenzung in Europa. Wir brauchten ein Medium, in dem wir selber reden können." Verlässliche Informationen seien fast ebenso wichtig für das Überleben einer Gemeinschaft wie sauberes Wasser.
Durch die Sahara und übers Mittelmeer
Larry, studierter Betriebswirt und Bauzeichner mit gutem Einkommen, musste seine Heimat Nigeria verlassen. "Ich habe die Menschenrechtsverletzungen der Dschihadisten und die Brutalität der Regierungsbeamten während des Massakers in der Stadt Jos öffentlich angeprangert", sagt er. Er schlug sich quer durch die Sahara bis nach Libyen durch, wo er eine gut gehende Baufirma aufbaute, aber "als 2011 der Bürgerkrieg in Libyen eskalierte, haben beide Kriegsparteien uns Ausländer als menschliche Schutzschilde gegen die Bomben der NATO missbraucht".
Erneut blieb Larry nur die Flucht, diesmal über das Mittelmeer. "Ausgerechnet ich, der ich immer gepredigt hatte, dass die Flucht nach Europa nicht die Lösung der Probleme Afrikas bedeutet, hatte keine andere Wahl." Er stieg auf ein heillos überfülltes Boot. 21 Stunden lang habe er Angst vor Wellen, Sturm und dem Kentern gehabt, sagt er. Bis die 270 Männer, Frauen und Kinder an Bord von der italienischen Küstenwache gerettet wurden.
In Italien lernte er schnell, dass das Leben in Europa nicht so wie in den Telenovelas ist. "Manche Italiener sind vor uns weggelaufen, weil wir schwarz sind", sagt er. Für ein besseres gegenseitiges Verständnis hat er das Kulturprojekt "The African Vibration" gegründet: "Die Italiener sollten verstehen, dass wir keine Terroristen oder Barbaren sind. Und für die neu ankommenden Flüchtlinge haben wir Workshops veranstaltet, in denen sie Sprache und Alltagskultur ihres Gastlandes kennenlernen konnten."
Aus dieser Initiative wuchs die Idee für eine Internetplattform, auf der die Flüchtlinge ihre Stimme erheben können. Als er nach zwei Jahren den Asylstatus hatte, bereiste Larry viele Länder in Europa, immer auf der Suche nach dem Ort, an dem er RRN ansiedeln wollte. "2013 kam ich nach Hamburg und habe die Stadt als einen Ort der Freiheit kennengelernt, an dem die Menschenrechte und die Würde des Menschen geachtet werden", sagt er.
Unterstützung von vielen Seiten
Zur gleichen Zeit hatte sich in der Hansestadt die Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge angesiedelt, die europaweit für Aufsehen sorgte, weil sie von Italien mit etwas Geld ausgestattet gen Nordeuropa geschickt worden war. Ebenso wie Larry sind auch diese 300 Menschen meist Schwarzafrikaner und haben die Flucht über das Mittelmeer überlebt. Gestrandet sind sie in Hamburg, wo die gesamte Gruppe pauschales Asyl beanspruchte. Als Zeichen der Solidarität hatte der Hamburger ver.di-Fachbereich Besondere Dienstleistungen der Gruppe die Gewerkschaftsmitgliedschaft angeboten, was in ver.di umstritten war.
Hört doch einfach mal bei uns rein!
Larry konnte mit Asuquo Udo und Sammy Ohjay zwei der neuen ver.dianer für sein Projekt RRN begeistern. Die drei Männer starteten mir ihrer gesammelten Berufs- und Lebenserfahrung in Hamburg das Refugee Radio Network.
Asuquo, der 50-jährige Journalist aus dem Niger-Delta, sagt: "Das Startkapital von 2 000 Euro war unser eigenes Geld, zum Teil haben wir es von Freunden außerhalb Europas bekommen." Zudem hätten sie viel Unterstützung in Hamburg erfahren. Er nennt ein paar Beispiele: "Die Stiftung :do gab uns Computer und Aufnahmegeräte, das Theater Kampnagel immer wieder den Raum für einen Infostand, und das nichtkommerzielle Radio FSK sowie das Zentrum für Mission und Ökumene der evangelischen Nordkirche halfen auch sehr."
Im November 2014 geht RRN online. Und berichtet seitdem rund um die Uhr für Flüchtlinge und andere Menschen in Europa, aus dem nahen Osten und Afrika. Auf Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch, je nachdem, welcher Mensch mit Migrations- oder Fluchterfahrung das Mikro gerade in der Hand hält oder sich - woher auch immer - zu Wort meldet. Denn RRN ruft ausdrücklich dazu auf, sich über Facebook, E-Mail oder Telefon in die Sendung einzuklinken.
Sendungen voller Lebenslust
Auffällig ist, dass RRN kein Jammer-Radio ist, sondern vor Lebenslust und Optimismus strotzt. "Wir wollen Frieden und Menschenwürde befördern, indem wir etwa Behörden zur Verantwortung aufrufen und Anregungen zu Verhaltensänderungen bieten", sagen die Radiomacher. Sie wollen nicht anklagen, sondern "Beiträge zu positiven politischen Veränderungen liefern". Zwischen den Wortbeiträgen läuft viel Musik, afrikanische und europäische, Hauptsache, sie verbreitet gute Laune. Ein Motto von RRN lautet "Love Freedom - love Live" ("Liebe die Freiheit - liebe das Leben"). Die Information bleibt dabei nicht auf der Strecke. Dutzende von Wortbeiträgen stehen zum Anhören und Download im Netz bereit: Berichte von Demos und öffentlichen Diskussionen, Interviews und natürlich Erfahrungsberichte von Flucht und Vertreibung.
Mancher Beitrag ist von anderen Sendern des weltweiten Netzwerks produziert worden. Denn nach einem halben Jahr hat RRN vielversprechende Kontakte geknüpft, die schon zu konkreten Kooperationen geführt haben: Mit Radiosendern aus Italien, Frankreich und Österreich, Kenia und Australien tauscht RRN Beiträge aus. Larry wurde im Rahmen einer Sendung über die Massenflucht über das Mittelmeer vom arabischen TV-Sender Al Jazeera interviewt. Radio Vatikan, UNICEF und Amnesty International haben auch Interesse an RRN signalisiert.
"Step by Step", sagt Larry, "Schritt für Schritt" wachse das Refugee Radio Network. Inzwischen ist das Kernteam auf fünf Leute angewachsen, darum herum gruppieren sich weitere acht Männer und Frauen. Mit dem Erfolg wachsen auch die Aufgaben. Die Kontakte zu Flüchtlingsgruppen in Kenia und Neuseeland wollen gepflegt sein, neue Kooperationen aufgebaut und die Schar der über 600 Facebook-Friends und 100 Twitter-Follower vergrößert werden. Natürlich soll auch das Spendenaufkommen wachsen. Der Betrieb kostet Geld, auch wenn die Menschen alle ehrenamtlich für RRN tätig sind.
Die weitaus meisten Hörer sind junge Menschen, weil sie es gewohnt sind, Radio über Computer zu nutzen. Ältere schalten meist lieber ihr gewohntes Rundfunkgerät ein. Deshalb ist Larry froh, dass die beiden Hamburger Radiosender FSK und TIDE im wöchentlichen Wechsel immer montags die aktuellen Sendungen von RRN auf UKW ausstrahlen.
RRN produziert auch Filme, die es bei YouTube einstellt. Etwa eine Kochshow mit dem gelernten Küchenchef Abiola, der Gerichte seiner nigerianischen Heimat vorstellt. Zudem verweist RRN auf Videos seiner weltweiten Netzwerkpartner. So kann man historische Dokus über die Europäische Kolonialisierung Afrikas sehen und die Al Jazeera-Sendung mit Larry. Im nächsten Schritt will RRN nun die Fernsehwelt erobern. Kontakte zu verschiedenen TV-Stationen in Europa existieren bereits, im November soll es beginnen.
"Es geht immer weiter", sagt Larry. "Wir lassen uns nicht mehr aufhalten. Wir haben die Sahara, die NATO-Bomben und das Mittelmeer überlebt. Wir sind stark genug, auch die Diskriminierung und Ausgrenzung in Europa auszuhalten." Er ist sich sicher: "Den Kampf für eine Welt für alle Menschen geben wir nicht auf. Also: Bleibt dran!"