Tarifflucht heißt auch: weniger Geld. Protest vor der Metrozentrale in Düsseldorf

"Bin schon 35 Jahre dabei, aber was die letzten fünf Jahre abgeht, ist völlig aus dem Ruder gelaufen", schreibt eine der 38.000 Beschäftigen der Metro-Tochter Real im ver.di-Internetblog. "Es wird an allen Ecken und Enden gespart, auf Kosten der Gesundheit." Stress an den Kassen, viel zu wenig Personal und eine Sortimentspolitik, die oft an Kundenwünschen vorbeigeht, das kritisieren auch Real-Betriebsräte immer wieder. Dagegen glänzt es in den Prospekten zum 50. Jubiläum der Supermarkt-Kette Real gewaltig. Nur, in den knapp 300 Märkten ist die Stimmung eben alles andere als ausgelassen.

Gefährliche Tendenz

Mit der Flucht aus dem Flächentarifvertrag des Einzelhandels ab Mitte Juni hat das Real-Top-Management diese Entwicklung auf die Spitze getrieben. Zusätzlich zur körperlichen und psychischen Unversehrtheit der Belegschaften in den SB-Warenhäusern wird das Einkommen angetastet: Die Erhöhungen aus der Tarifrunde 2015 von 2,5 und 2 Prozent im Jahr 2016 verkneift sich Real einfach - in einer Branche, in der vielen wegen der relativ niedrigen Einkommen ohnehin schon die Altersarmut droht. Und wenn ́s nach Metro-Konzernchef Olaf Koch geht, ist das nur der Anfang. Er übt seit langem Druck aus, die Personalausgaben weiter zu senken. Begründet wird das mit "Kostennachteilen" im Wettbewerb.

Das ist aber nicht der Kern des Problems. So ist zum Beispiel Kaufland als Hauptkonkurrent unter den SB-Warenhäusern, die von Lebensmitteln bis zu Fahrrädern fast alles anbieten, an die Tarifverträge des Einzelhandels gebunden. Grund zur Unruhe besteht für den gesamten Einzelhandel, denn der Flächentarifvertrag ist in Gefahr. Ab dem Jahr 2000 verabschiedeten sich die Arbeitgeberverbände aus der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, die sie bis dahin gemeinsam mit den Gewerkschaften regelmäßig beantragt hatten. Einzelhandelsunternehmer konnten künftig ohne Furcht vor Sanktionen untertariflich zahlen, zugleich aber die Vorteile einer Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband genießen. Die Erosion des Flächentarifvertrags könnte durch die Tarifflucht von Real nun noch beschleunigt werden.

Schon jetzt ist im Einzelhandel der Anteil der armen Beschäftigten, der "working poor", sehr hoch. Im Bereich der sonstigen Dienstleistungen, zu denen der Handel zählt, beträgt das Armutsrisiko laut Düsseldorfer WSI-Institut 20,4 Prozent.

Mehrere Tausend im Streik

"Für uns hat der Kampf um die Tarifbindung oberste Priorität", sagt ver.di-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. Tatsächlich sind außerhalb regulärer Tarifrunden noch nie so viele Firmen von Arbeitsniederlegungen betroffen gewesen: außer Real die Amazon-Versandzentren, die Textilkette Primark, das Zentrallager von KiK, OBI-Baumärkte, Läden der Modekette Wöhrl sowie Spielzeugfilialen von Toys' R' Us. Bei Real haben seit der Tarifflucht mehrere tausend Beschäftigte gestreikt. Am 30. September gab es vor der Metro-Zentrale in Düsseldorf eine große Protestkundgebung. Die Botschaft: "Nein zu Absenkungen bei den Tarifen, Nein zu Eingriffen in bestehende Tarifverträge."

Aufgeheizt war die Stimmung, weil die Arbeitgeber am Vortag weitere Verschlechterungen benannt hatten, die sie ebenfalls in einem "modernen Haustarifvertrag" festschreiben möchten: die Kopplung von Weihnachts- und Urlaubsgeld an den Unternehmenserfolg, weniger Urlaub, 40 Stunden Wochenarbeitszeit ohne Lohnausgleich, Absenkung bzw. Streichung von Zuschlägen. Die Kürzungen zielen zunächst auf den eigenen Laden, sollen aber offenbar auch Maßstäbe für die Branche setzen.

Eine Aktionswoche gegen die Tarifflucht bei Real veranstaltete ver.di in der zweiten November-Hälfte in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Unterstützung bekommen die Streikenden auch von außerhalb; gerade hat sich die Lokführergewerkschaft GdL mit ihnen solidarisiert.

Während bei Amazon die nächste Streikphase begonnen hat, sei bei Real die Stimmung gemischt, sagen Betriebsräte. In etlichen Filialen gelingt es der Leitung, genug Angst zu schüren, um Proteste zu verhindern. Die meisten ver.di-Aktiven lassen sich aber nicht entmutigen. "Wir kämpfen für unsere Leute bei Real und für den ganzen Einzelhandel", sagt Betriebsrätin Susanne Meister. Sie ist im Vorstand der ver.di-Bundesfachgruppe Einzelhandel und hält auch als Aufsichtsratsmitglied bei der Metro nicht mit ihrer Überzeugung zurück, dass das Unternehmen in die Tarifbindung zurückkehren muss.