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Über 70 Prozent der Beschäftigten des Uniklinikums Gießen und Marburg fordern einen Tarifvertrag EntlastungFoto: Weigel/picture alliance/dpa

So eine Stimmung hat der Anästhesiepfleger Robby Merten am Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) noch nie erlebt: "Wir haben eine historische Chance, wirklich etwas zu verändern", davon ist der Pfleger aus Marburg überzeugt. Die Tarifbewegung für mehr Personal und Entlastung hat das hessische Klinikum mit voller Wucht erreicht. Im Dezember hatten die Beschäftigten ein 100-Tage-Ultimatum gestellt: Entweder willigt die Klinikleitung ein, ernsthaft über einen Tarifvertrag Entlastung zu verhandeln – oder sie treten in einen unbefristeten Streik. Die Frist läuft am 24. März ab.

Wie ernst die Kolleginnen und Kollegen es meinen, zeigt auch die Zahl der Gewerkschaftseintritte: In den letzten Wochen haben sich rund 400 Beschäftigte neu bei ver.di organisiert. "Endlich passiert etwas", sagt die Medizinisch-technische Laboratoriumsassistentin Martina Goldberg aus dem Zentrallabor in Gießen. "Ich bin richtig erleichtert!" Schon lange sei klar, dass es so nicht weitergehen könne, betont die 56-Jährige. Das Personal sei heillos überlastet und völlig erschöpft. Jetzt sei der perfekte Zeitpunkt, um die Dynamik zu nutzen: Zuletzt setzten die Beschäftigten an der Charité in Berlin, an den sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen und in Frankfurt am Main – teils mit wochenlangen Streiks – Tarifverträge für Entlastung durch. Aktuell machen auch die Beschäftigten in Dresden Druck, in Mainz, Homburg und Jena wurden schon vor längerem Entlastungstarifverträge durchgesetzt. "Jetzt sind wir dran", betont Martina Goldberg.

Der große Unterschied

Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Die anderen Häuser sind alle in öffentlicher Hand. Das Universitätsklinikum Gießen und Marburg – kurz UKGM – wurde jedoch 2006 vom Land Hessen privatisiert und an die Rhön AG verkauft. Inzwischen hat der private Klinikbetreiber Asklepios die Aktienmehrheit des Unternehmens übernommen.

"Dem privaten Konzern geht es einzig und allein darum, Gewinne zu erzielen", sagt der zuständige ver.di-Sekretär Fabian Dzewas-Rehm. Bei Krankenhäusern in öffentlicher Hand werde angestrebt, schwarze Zahlen zu schreiben, doch im Mittelpunkt stehe die Patientenversorgung. Der Tarifvertrag Entlastung sei dort vor allem eine politische Entscheidung. "Das ist bei uns etwas schwieriger", gibt der Gewerkschafter zu bedenken. Die Uniklinik Gießen und Marburg gehört einer Aktiengesellschaft und verfolgt rein finanzielle Ziele. "Alles, was Mehrkosten verursacht, ist nicht gerne gesehen."

Allerdings sieht Pfleger Robby Merten darin auch einen Vorteil: "Der Konzern rechnet nur in Euro", sagt der Anästhesiepfleger, "und bangt um jeden Streiktag." Die Kolleginnen und Kollegen in NRW streikten mehr als elf Wochen, die Klinikchefs klagten über Millionenverluste. "Das gibt uns Riesenrückenwind", glaubt Merten. "So etwas will unser Arbeitgeber sicher verhindern." Schließlich hätten die Beschäftigten in Gießen und Marburg bereits gezeigt, dass es ihnen ernst ist.

"Unser Arbeitgeber bekommt Muffensausen"

Die Forderung nach einem Tarifvertrag Entlastung haben 4.163 Kolleginnen und Kollegen aus beiden Standorten unterschrieben – mehr als 70 Prozent der betroffenen Beschäftigten. Hunderte von ihnen waren im Dezember zu Kundgebungen in Gießen und Marburg geströmt, um beim Start des 100-Tage-Ultimatums dabei zu sein. "Unser Arbeitgeber bekommt Muffensausen", glaubt Robby Merten. Vor Ort kündigte UKGM-Chef Gunther Weiß an, "schnell und konstruktiv" über einen Tarifvertrag Entlastung verhandeln zu wollen.

Für Fabian Dzewas-Rehm von ver.di ist das ein gutes Signal. Anderswo mussten die Kolleginnen und Kollegen erst lange streiken, um überhaupt Verhandlungen durchzusetzen. "Bei uns geht es schneller los, das ist toll", sagt der Gewerkschafter. Allerdings sei noch vollkommen offen, wie es weitergehe. Aktuell beginnen die Teams, die Forderungen nach Belastungsgrenzen und einem verbindlichen Ausgleich für Arbeit in Unterbesetzung zu diskutieren. Am 6. und 7. März sollen die konkreten Forderungen beschlossen werden. Neben Regelungen zur Entlastung sei ihm besonders wichtig, dass keine Bereiche ausgegliedert werden, betont Anästhesiepfleger Merten. "Krankenhaus ist Teamarbeit." Ob Pflege, Küche, Security oder Transportdienst: "Wir müssen alle in einem Boot bleiben."

Zum Hintergrund: Seit vielen Monaten ringt die schwarz-grüne Landesregierung mit der Rhön AG um den sogenannten Zukunftsvertrag. Nachdem der Konzern beim Kauf des UKGM noch auf staatliche Investitionszuschüsse verzichtet hatte, will das Land Hessen dafür nun in den kommenden zehn Jahren eine halbe Milliarde Euro zahlen. Im Gegenzug dafür soll Rhön auf betriebsbedingte Kündigungen und Outsourcing verzichten. Doch noch sei unklar, ob die Zusage auch wirklich für alle Beschäftigten gilt, sagt ver.di-Sekretär Fabian Dzewas-Rehm. "Bislang gibt es kein Wort über die Kolleginnen und Kollegen der UKGM Service GmbH. Sie brauchen Sicherheit."

Privater Betreiber hin oder her, der Gewerkschafter sieht auch bei der Forderung nach Entlastung ganz klar die Politik in der Pflicht. Zum einen habe das Land Hessen "eine moralische Verantwortung", weil es die Uniklinik damals verkauft habe, betont Fabian Dzewas-Rehm. Zum anderen erfülle die Universitätsklinik einen öffentlichen Auftrag – und sei wichtig für Ausbildung, Forschung und Lehre sowie die Krankenversorgung in der gesamten Region. "Und das Land zahlt sehr, sehr viel Geld." Deshalb erwarte er, dass die Landesregierung wenigstens auf ein Mitspracherecht poche. Doch unabhängig vom Besitzer gelte: "Letztlich werden die Auseinandersetzungen im Betrieb entschieden."

"Wir sind gnadenlos drüber"

Martina Goldberg aus dem Zentrallabor meint: "Wann, wenn nicht jetzt?" Und auch Robby Merten aus der Anästhesie betont: "Es ist höchste Eisenbahn." So eine Wut und Verzweiflung habe er im Krankenhaus noch nie erlebt. "Die Arbeit wird immer mehr und mehr und mehr", klagt der Pfleger. "Wir waren schon vor Corona am Limit, aber jetzt sind wir gnadenlos drüber." Im Dienst sei er für mehrere Operationssäle gleichzeitig zuständig, hetze ständig hin und her, komme gar nicht zum Luftholen. In der Pause müsse er meist nach ein paar Bissen schon wieder aufspringen und losrennen. Nach der Arbeit sei er so erschöpft, dass er zu Hause fast beim Essen einschlafe. In Ausnahmen sei so ein Stress mal zu bewältigen, findet Robby Merten, aber nicht als Regelfall.

Auch Martina Goldberg betont, dass es dringend Regelungen zur Entlastung braucht. Ständig die doppelte Arbeit zu bewältigen, sei auf Dauer extrem belastend. Viele Kolleginnen und Kollegen würden davon krank. "Wir springen immer nur hin und her, machen tausend Sachen gleichzeitig, das schlaucht wahnsinnig." Wenn sie kurz in der Pause ihr Brot runterschlinge, müsse sie danach im doppelten Tempo arbeiten. Die Gefahr sei groß, dass Fehler passieren. Die Arbeit selber sei prima, betont die Laboratoriumsassistentin, aber der Stress zu groß. Die Leute seien völlig ausgebrannt. "Deshalb übernehmen wir den Staffelstab", sagt sie. "Berlin, NRW, Frankfurt – und jetzt wir!"

UKGM bleibt privat

Rekommunalisierung – Deutschlands einziges privatisiertes Universitätsklinikum in öffentliches Eigentum zurückzuführen, ist durchaus möglich: Ein Rechtsgutachten der Rosa-Luxemburg-Stiftung, von ver.di und Die Linke in Auftrag gegeben, kommt zu dem Ergebnis, dass eine Vergesellschaftung des UKGM mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Das Land Hessen habe dafür die Gesetzgebungs-befugnisse. Der Marburger Oberbürgermeister Thomas Spies (SPD) stellt in Aussicht, dass die Stadt 100 Millionen Euro für den Rückkauf beisteuern würde. In einer Petition forderten 18.000 Menschen die Rückführung des Klinikums. Doch die schwarz-grüne Mehrheit im Landtag stimmte dagegen.