Die EU will die Vielfalt der Berufsausbildungen und Qualifikationen in Europa sichten, beschreiben und zertifizieren - und so die Mobilität unterstützen

Deutsche Handwerker auf Baustellen in Südfrankreich, Krankenpfleger am Nordkap oder Bäcker an der Costa Brava werden so alltäglich wie Fachkräfte aus anderen Ländern in Deutschland. Was dagegen fehlt sind europataugliche Zertifikate. Ohne sie aber sind angemessene Dotierungen erschwert. Weil die Berufsausbildung in den nunmehr 27 EU-Mitgliedsländern unterschiedlich funktioniert, ist ein Vergleich nicht einfach. Mit einem Europäischen Qualifikationsrahmen sowie einem Leistungspunktesystem sollen Berufsqualifikationen in den EU-Ländern transparenter werden. Danach kann man Ähnlichkeiten und Unterschiede feststellen.

Zwischen 934 Ausbildungsberufen kann György in Ungarn wählen. Georg in Deutschland findet 345 Ausbildungen im Verzeichnis anerkannter Berufsausbildungen. In den meisten europäischen Ländern beginnt die berufliche Qualifizierung dagegen im Klassenzimmer: Vollzeitschulischer Unterricht wird meist mit betrieblichen Praktika kombiniert. Chantal in Frankreich hat die Wahl zwischen zwei- bis dreijährigen Ausbildungen an Berufsoberschulen, die zu drei graduell unterschiedlichen Abschlüssen führen: dem Berufsbefähigungszeugnis, dem Berufsbildungszeugnis und dem berufsorientierten Abitur. In Dänemark qualifizieren sich Siw und Sven zunächst in einer schulischen Grundausbildung, der sich in sieben unterschiedlichen Berufsfeldern eine duale Hauptausbildung anschließt.

Gewerkschaften und Arbeitgeber einbezogen

Mehr Mobilität auf dem Arbeitsmarkt will die EU mit einem "Lernraum Europa" unterstützen. Innerhalb des Europäischen Qualifikationsrahmens sowie Nationaler Qualifikationsrahmen sollen die jeweiligen Bildungssysteme nach gemeinsamen Kriterien beschrieben und so vergleichbarer werden. Ein System mit Leistungspunkten gewichtet die Qualifikationen nach acht Stufen. Über dieses Europäische Leistungspunktesystem (ECVET) haben Gewerkschaften und Arbeitgeber bereits Konsultationen aufgenommen.

Der Zeitplan ist ehrgeizig: Bereits im Mai sollen Ergebnisse vorliegen. Und im Juni, zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft, sollen die EU-Bildungsminister ihre Empfehlungen formuliert haben und an den EU-Ministerrat und das Europäische Parlament weiterleiten - mit dem Ziel, das europaweite Leistungspunktesystem bereits im Frühjahr 2008 einzuführen.

In den Gewerkschaften sieht man die Pläne mit gemischten Gefühlen. Hermann Nehls, Bildungsexperte beim DGB-Bundesvorstand, spricht vom "Prinzip Ja - Aber". Positiv sei ein Mehr an Transparenz von Berufsbildungsabschlüssen. Ein Zertifikat über Qualifikationen belegt schließlich berufliches Können und beeinflusst die Eingruppierung im Tarifvertrag. Gefahren sieht Nehls dagegen, sollten Berufsbildungsabschlüsse mit höchst unterschiedlichen schulischen Abschlüssen gleichgesetzt oder die deutschen dreijährige Facharbeiter- oder Fachangestelltenausbildungen wie eine kurze englischen Anlernausbildung bewertet werden.

ver.di warnt: Bildung ist keine Ware

Die gebremste Begeisterung für mehr Europa in der Berufsbildung hat simple Gründe. Im Rahmen der aktuellen Debatte sprießen an vielen Stellen Überlegungen, die auf eine Auflösung des Berufsprinzips hinauslaufen. In ihrer Streitschrift "Bildung ist keine Ware" warnen GEW, IG-Metall und ver.di davor, die betriebliche Ausbildung zu ersetzen durch eine Modularisierung der Bildungsgänge und die Vermittlung schmaler, betriebsspezifischer Kenntnisse. Die Folge wäre nicht nur eine Individualisierung von Ausbildungswegen. Zugleich entstünde ein Markt für Ausbildungsmodule, die von irgendwelchen Zertifizierungsagenturen bewertet würden.Gunter Lange