Eine Minute Trost

Ohne ambulante Pflegedienste könnten viele Menschen ihren Alltag nicht bewältigen. Aber knappe Zeitvorgaben machen gute Pflege zum Kunststück: Unterwegs mit Schwester Silvana vom Arbeiter-Samariter-Bund

Von Heike Dierbach

Die Schlaganfallpatientin genießt die Pflege nach der Dusche

Fünf Minuten für Herrn Kostakis*, Schlaganfall, Beine wickeln. "Haben Sie gut geschlafen?" Silvana Weigerding rollt zügig die Bandagen ab. Es ist 6 Uhr 40, Herr Kostakis ist ihr erster Patient an diesem Mittwochmorgen. Linkes Bein, rechtes Bein, Kürzel in die Dokumentationsmappe. "Guddi. Wir sehen uns dann morgen, ne? Einen schönen Tag für Sie!"

Über den Flur vier Zimmer weiter, Silvana hat in dem Wohnheim noch einen Patienten. Fünf Minuten für Herrn Brauner, Querschnitt, Heparin in die Bauchhaut spritzen. "Gehen Sie heute zur Arbeit?" "Ja, um viertel nach sieben fahre ich mit dem Fahrdienst." "Dann einen schönen Arbeitstag!" Zurück zum Auto, "die Nächsten warten ja schon". Überall im Hamburger Stadtteil Bramfeld warten heute Morgen Menschen auf Schwester Silvana. Ohne die mobile Altenpflegerin vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) kommen sie nicht aus dem Bett, können sich nicht waschen, nicht anziehen, nicht frühstücken.

Pflege nach Punkten

Wie viel Silvana sie bekommen, bestimmt die Krankenkasse: Für jede Tätigkeit wurden über einen Punktwert die notwendigen Minuten berechnet. 15 Minuten für Frau Meier, alte Dame, Toilettenstuhl leeren, Frühstück machen. Frau Meier hat einen Brief für Silvana auf den Wohnzimmertisch gelegt, die neue Medikamentendosis von ihrem Arzt. "Aber diese Calciumtabletten, die hab ich doch gar nicht mehr." "Das stimmt, Frau Meier. Da rufe ich nachher mal beim Arzt an." Silvana stellt zwei Gläser Eistee auf den Tisch, "Frau Meier trinkt oft zu wenig", und einen Teller warmen Grießbrei, "den liebt sie über alles". Beide Arbeitsschritte muss sie einzeln in die Dokumentationsmappe eintragen, ebenso wie "Toast mit Marmelade schmieren" und "Tee kochen". Die Kasse will prüfen können. Zum Abschied umarmt Silvana Frau Meier kurz, sie strahlt. Immer wenn die Pflegerin vor dem Haus in ihr Auto steigt, winkt die alte Dame nochmal aus dem Fenster im zweiten Stock. Silvana ist drei Minuten über der Zeit.

Sicherheit geht vor beim wöchentlichen Duschbad

Seit sieben Jahren arbeitet die 35-Jährige in der ambulanten Altenpflege. Die gebürtige Sächsin ist auf der Sozialstation des ASB die Frau für die schweren Pflegefälle. "Viele rümpfen da ja die Nase. Aber bei den großen Pflegen hat man wenigstens mal eine halbe Stunde am Stück mit einem Patienten. Und mich befriedigt es, wenn ich sehe, wie dankbar die Leute oft sind." Dankbar auch, weil Schwester Silvana nicht ständig auf die Uhr guckt "Am Anfang hab ich mich mit der Zeitvorgabe verrückt gemacht. Aber jetzt denke ich nicht mehr daran, sonst könnte ich meine Arbeit nicht gut machen. Wir haben es doch mit Menschen zu tun!" Dauert es mal länger, kann Silvana das als "Organisationszeit" abrechnen - der ASB muss aber sehen, wo er die Minuten wieder einspart.

40 Minuten für Frau Behrmann, Schlaganfall, aus dem Bett holen, waschen, anziehen. Die 64-Jährige macht fröhlich "hmmmmm", als die Schwester ins Zimmer kommt. Silvana streicht ihr über die Wange. "Wer bin ich, Frau Behrmann? Der B..." "Boss!" Gelächter. Frau Behrmann hat Wortfindungsstörungen, "aber wenn man ihr den Anfang sagt, geht es gut". Silvana wechselt den Katheterbeutel. "Der ist aber heute voll, Frau Behrmann. Das ist gut!"

Der Umgang mit Urin und Kot ist für die Altenpflegerin kein Problem. "Das gehört halt dazu." Viel belastender findet sie die familiären Probleme mancher Patienten, "wo ich als Pflegerin ja nichts machen kann". Außer Verstehen, wie bei Frau Behrmann, deren geschiedener Mann nach ihrem Schlaganfall wieder zu ihr ins Haus gezogen ist. "Wenn Sie sprechen könnten, Sie hätten was zu erzählen, was Frau Behrmann?" Die beiden Frauen tauschen einen langen Blick. Zehn Minuten über der Zeit.

Jeden Morgen hebt Silvana die Patientin aus dem Bett in den Rollstuhl

40 Minuten für Frau Lichte, zehn Minuten für Frau Voss, 15 Minuten für Frau Sommer, 20 Minuten für Frau Hähnlein. Und dazwischen immer auf den Verkehr konzentrieren. "Wenn man das hier nur als Job sieht, ist man fehl am Platz", sagt Silvana. Deshalb schreibt sie sich auch keine Stunden auf, wenn sie für die Senioren-Weihnachtsfeier einen Kuchen backt oder zur Beerdigung eines Patienten geht. Oft spürt sie den Impuls, doch noch mehr zu machen, vielleicht privat etwas für Patienten zu erledigen. "Aber zum Glück stoppt mich dann mein Freund."

30 Minuten für Herrn Rother, Querschnitt, duschen, Inkontinenzversorgung, Kompressionsstrümpfe, anziehen. "Wenn ich Glück habe, gibt's da einen Kaffee." Es wäre der erste seit Dienstbeginn vor dreieinhalb Stunden. Essen kann Silvana gar nicht zwischendurch, "das hab ich mir irgendwie abgewöhnt". Nach drei, vier Patienten gönnt sie sich aber immer eine Zigarettenpause.

Herrn Rothers Dekubitus-Stelle am Rücken gefällt Silvana heute nicht. Sie macht einen neuen Verband und schüttelt den Kopf. "Es gibt ja inzwischen sehr gute Matratzen gegen Wundliegen. Aber die bezahlen die Kassen erst, wenn man schon eine Stelle hat." Auch die kürzeren Krankenhausaufenthalte bekommen die Pflegedienste zu spüren: "Wir müssen immer frischere Wunden versorgen." 15 Minuten über der Zeit.

Zehn Minuten mehr für die Patienten wäre schon viel

Herr Rother ist die letzte Station der Morgentour. Danach geht es für eine halbe Stunde zurück ins Büro, bevor Silvana um halb zwölf Frau Behrmann zum Mittagsschlaf ins Bett bringt, zwei Stunden später wieder herausholt und zwischendurch eine stark übergewichtige, depressive Patientin versorgt, die nur sie als Pflegerin akzeptiert. Die Wartezeiten bekommt die Schwester nicht bezahlt. Von halb sieben bis halb zwei kommt sie so heute auf 5 Stunden 20 Minuten. Wenn Not am Mann ist, übernimmt sie auch noch die Abendtour - dann ist erst nach acht Feierabend. Mit ihrer Arbeitsstelle ist Silvana sehr zufrieden: "Wir sind ein Superteam, bekommen viele Fortbildungen." 1500 netto sind mehr, als sie bei vielen anderen Pflegediensten verdienen würde - der ASB hat als einer der wenigen Anbieter einen Tarifvertrag unterschrieben.

Als Silvana um halb zwei von ihrem letzten Einsatz bei Frau Behrmann zurück ins Büro fährt, geht sie in Gedanken nochmal durch, ob sie alles richtig gemacht hat. "Ich glaube, heute ist es gut gelaufen. Der Tag hat mir Spaß gemacht." Ihr größter Wunsch für ihre Arbeit? Da muss sie keine Sekunde überlegen: "Mehr Zeit. Zehn Minuten, dass man mal in Ruhe mit dem Patienten reden kann! Das wäre schon viel."

*Alle Patientennamen geändert

Siehe Artikel "Pflegeversicherung: Achillesferse Finanzausgleich"

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