Das Denkmal ist früh aufgestanden

Sie waren in Leipzig dabei: Sechs Delegierte und ihre persönlichen Highlights auf dem Bundeskongress

Die Älteste: Brünhilde Erbstösser

Mit dem Gehen klappt es nicht mehr so gut, da muss Brünhilde Erbstößer sich etwas eher auf den Weg machen als andere. So ist sie beim Fototermin dann doch die Erste, auch die Eleganteste, im raschelnden Seidenrock. Über das Kompliment lacht sie. "Ich muss doch auf leichtes Gepäck achten." Die Erfurterin ist 83. Dass so ein Kongress anstrengt, sagen viele Jüngere, sie nicht. Sie freut sich über vieles: "Dass ich Detlef Hensche kennenlernen konnte. Der hat meine Urkunde unterschrieben, als ich 50-jähriges Gewerkschaftsjubiläum hatte." Hensche war vor der ver.di-Gründung Chef der IG Medien. Zu der gehörte Brünhilde auch, als Großhandelskauffrau für Verpackungsmaterial. Dass sie immer noch "Großhandelskaufmann" sagt, ist alte Gewohnheit. Dabei ist sie flink im Kopf, keine Frage. Ihr Kalender ist voller Termine, nicht mit ihren drei Kindern, sechs Enkeln und zehn Urenkeln, sondern mit Senior/innen und deren Gremien, vom DGB, von ver.di, aus der Stadt Erfurt und manchmal sogar aus Litauen. Sie hat Kontakte zu Senioren in Vilnius geknüpft, der Partnerstadt von Erfurt. "Denn mich ärgerte, dass immer nur der Oberbürgermeister hinfuhr!"

Auf dem Kongress begeisterte Brünhilde die Idee einer gemeinsamen Mitgliedskarte für ver.di, die britische Gewerkschaft Unison und die österreichische Gewerkschaft der Privatangestellten. "Als der Kollege aus Wien von internationalen Kontakten gesprochen hat, hat er alle überzeugt. Das war so lebendig. Dazu noch sein Wiener Charme, der macht auch was her!"


Die Jüngste: Julia Nowey

Elf weiße Denkmäler stehen im Saal, überragen die Menge und drehen sich langsam, damit man die Aufschriften lesen kann. Eines ist das "Denkmal für die 481. Bewerbung" um einen Ausbildungsplatz. In dem hellen Ganzkörperkondom steckt Julia Nowey aus Hessen, die jüngste Delegierte, Mitglied des Bezirksjugendvorstands ver.di Mittelhessen. 20 ist sie und macht schon ihre zweite Ausbildung. Zuerst wurde sie am Regierungspräsidium Gießen Fachangestellte für Bürokommunikation und bestand nebenbei ihr Fachabitur. Jetzt wird sie noch Beamtin im mittleren Dienst. Am liebsten möchte sie später für die Einbürgerung von Migranten arbeiten.

Vom Kongress hatte sie vorher "keine Vorstellung". Höhepunkt war dann für sie der frühe Freitagmorgen. Eigentlich war es noch Nacht. Kurz nach drei wurde sie vor dem Hotel abgeholt. Ob sie genug Schlaf kriegen würde, hatte sie vorher keinen Moment überlegt. Um halb fünf - es war immer noch dunkel - stand sie dann mit anderen in Haldensleben vor dem Eingang zum Versandzentrum Hermes Warehousing Solutions, um mit 155 Kongressdelegierten die Streikenden zu unterstützen. Müde war sie nicht. "Es war aufregend. Ich hatte noch nie einen Streik miterlebt. Leute aus anderen Bussen waren mit Frank Bsirske im Streiklokal. Alle aus unserem Bus haben vor dem Eingang zur Firma ein Spalier gebildet und gepfiffen, wenn Streikbrecher kamen. Eine Frau kriegte besonders viele Buhrufe ab, bis sie rief: Ich komme gleich wieder, ich muss nur was abgeben. Wir haben es nicht geglaubt, aber sie kam wirklich schnell zurück. Da haben wir ihr einen tollen Empfang bereitet."


Die Nummer 1: Reinhard Burath

Der Delegierte mit der Nummer 1 kommt aus Schleswig-Holstein und aus dem Fachbereich Ver- und Entsorgung, er ist in Altersteilzeit, 59 Jahre alt und vielfach aktiver Ehrenamtlicher bei ver.di. Aktiv ist er auch am Gymnasium seines Sohnes und im Förderverein für eine alte Windmühle. Gewerkschaftstage sind längst nichts Neues mehr für ihn; von diesem wünschte er sich "Beschlüsse, die die politische Situation in Deutschland sehr deutlich kritisieren". Und dann war er nahe dran, ausgerechnet beim Kongress aus der Gewerkschaft auszutreten. "Das war der Moment, als sich die Mehrheit der Delegierten für die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht entschied. Da die Bundeswehr erhalten bleiben soll, heißt das, es soll eine Berufsarmee geben. Dafür bin ich nicht. Ich war selbst sehr gern Soldat, habe Soldaten ausgebildet - und ich weiß, dass vor 80 Jahren eine Berufsarmee in Deutschland die Basis für einen totalitären Staat war."

Reinhard Burath ist nicht ausgetreten. Gehalten hat ihn, sagt er, die Grundsatzrede des Vorsitzenden. "Die gibt mir Kraft. Getoppt wurde sie noch von dem europäischen Schritt, dass ver.di enger mit Unison und der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten zusammenrückt. Als die drei Vertreter der drei Organisationen vorn standen - das hat mich bewegt. Außerdem werde ich noch gebraucht, als ehrenamtliches Pendant für unsere neue Bezirksgeschäftsführerin. Überhaupt: Ich bin ein Ehrenamtsfetischist, ich kann nicht aufhören."


Der Betriebsrat: Heinz Wendelgass

"Vor dem Kongress war ich erschrocken über die Menge und Vielfalt der Anträge. Am wichtigsten war für mich alles zum Thema Mindestlohn, damit habe ich mich gründlich beschäftigt. ver.di hat das Thema in die Gesellschaft gebracht, das ist gerade für unseren Fachbereich mit den alternativen Postzustelldiensten eine große Sache!" Heinz Wendelgaß, 56, Postbeamter und jetzt freigestellter Betriebsrat, kommt aus dem Saarland. Fragt man ihn nach den Tagen in Leipzig, spricht er von Mut: "Die Kollegin aus Kolumbien, die hier gesprochen hat, beeindruckt mich. Sie ist in Lebensgefahr und leistet trotzdem Gewerkschaftsarbeit. Sie musste sogar ihren Sohn außer Landes bringen. Ich weiß nicht, ob ich es unter solchen Umständen schaffen würde, so aktiv zu sein. Aber ich bewundere auch Leipzig. Ich war an der Nikolaikirche - hier hat es mit dem Ende der DDR begonnen. Ich habe riesigen Respekt davor. Die Leute wussten ja damals nicht, wie es ausgeht. Und es waren auch Mutige, die bei Saarriva, einer saarländischen Tochter der Pin AG, einen Betriebsrat in der Zustellung gegründet haben. Sie wurden sofort rausgeschmissen. Die Kündigungen wurden in Verhandlungen mit ver.di zurückgenommen, aber Mut haben die Frauen auch gebraucht, viel Mut."


Die Erwerbslose: Belinda Brechbilder

Belinda Brechbilder aus Bayern ist Mitglied im Bundeserwerbslosenausschuss. Doch die 46-Jährige ist nicht erwerbslos, sie arbeitet 15 Stunden pro Woche in einem Kindergarten. Was sie dafür bekommt, reicht allerdings nicht zum Leben; sie erhält zusätzlich Arbeitslosengeld II. Berufe hat sie sogar mehrere: Kinderpflegerin, Hauswirtschafterin, Buchhändlerin und Ergotherapeutin. Sie war alleinerziehend, inzwischen ist ihr Sohn 23 und in einer medizinischen Ausbildung.

Hartz IV ist Belindas Thema, war es auch auf dem Kongress. Nach der Grundsatzrede wollte sie darüber vor den Delegierten sprechen, aber die Zeit reichte nicht, die Debatte wurde beendet, ehe Belinda dran war. Sie ist nicht traurig darüber, konnte sie doch mit vielen Leuten darüber reden und schließlich - ihr Highlight - sogar mit dem Chef der Arbeitsagentur. "Ich habe ihm erklärt, dass Ein-Euro-Jobber im Bürgerspital Würzburg missbräuchlich eingesetzt werden, anstelle von ausgebildeten Pflegekräften. Er hat mir versprochen, das zur Chefsache zu machen und sich darum zu kümmern."


Der Streitbare: Thomas Liermann

Thomas Liermann war gut vorbereitet. Der 24-Jährige, der bei den Kölner Verkehrsbetrieben Industriemechaniker wird, hat mitgeredet auf dem Kongress, über die nötige Beteiligung am 1. Mai, über Bundeswehr und Zwangsdienste, über das NPD-Verbot. Signale, wie es weitergeht, hat er vom Kongress erwartet. "Viele Jugendliche sagen, es bringt ja doch nichts, irgendwas zu tun. Gerade für sie fand ich die Botschaft am Schluss wichtig: Wir können die Welt verändern."

In der Antragsdiskussion hat Thomas Liermann berichtet, warum er für das Verbot der NPD eintritt. Auf dem Hans-Böckler-Berufskolleg, das er in Köln besucht, "gab es eine Test-Bundestagswahl. Dabei hat die NPD 30 Prozent der Stimmen bekommen. Das sage ich, um den Bewusstseinszustand vieler Jugendlicher zu beschreiben - und die Notwendigkeit, dagegen vorzugehen." Das klare Votum des Kongresses, die Geschlossenheit zum Thema Nazis und Rassismus war für ihn das Beste an den Tagen von Leipzig.

TEXT: claudia von zglinicki, FOTOS: KAY HERSCHELMANN

Da muss man erstmal durch: die Kongressunterlagen der Delegierten