Ausgabe 11/2007
Die Hoffnungsträgerin
Von Annette Jensen |Die Hoffnungsträgerin
Einmal im Jahr fährt Mariam Notten in ihre alte Heimat Afghanistan - das Bargeld sorgsam in einer Tasche am Körper verwahrt. Mit solchen Spenden hat sie eine Mädchenschule in dem bitter armen und vom Krieg gezeichneten Land aufgebaut
Von Annette Jensen
"Irgendwann war ich des Sprechens müde."
Viele ihrer Landsleute hatten Angst, warteten erst einmal ab. Doch Mariam Notten war wütend, verzweifelt, traurig. Ausgerechnet die USA wollten Afghanistan von den Taliban befreien - von jenen Jungmännern, denen der US-Geheimdienst schon in Kindstagen Todesverachtung eingetrichtert hatte, damit sie gegen die Sowjets kämpften. "Und nun sind ihnen ihre Zauberlehrlinge aus dem Ruder gelaufen", erklärte Mariam Notten immer und immer wieder, nachdem in New York das World Trade Center zusammengestürzt war.
Auf Demonstrationen griff sie zum Megafon, gab unzählige Interviews im Radio, Fernsehen, in Zeitungen - damals, im Herbst 2001. Sie wollte allen klar machen, dass die "bedauerlichen Kollateralschäden", die die amerikanischen Bomben in Afghanistan verursachten, tatsächlich tausende von toten und verletzten Menschen waren.
"Und irgendwann war ich des Sprechens müde", sagt die zierliche Frau mit dem roten Schimmer im schwarzen Haarschopf und dreht sich erstmal eine Zigarette. Auf dem Boden ihrer Berliner Altbauwohnung liegen überall blaugemusterte Knüpfteppiche, der Esszimmertisch mit der glitzernd-bunten Tischdecke ist so groß, dass dort ohne Probleme zehn Menschen Platz nehmen können; sonst weist in ihrer akribisch aufgeräumten Wohnung zunächst nichts auf ihr Heimatland hin.
Mariam Notten nahm Kontakt zu alten Weggefährten auf. Sie wollte etwas Praktisches tun und sammelte Geld bei Freunden und Bekannten. Dann band sie die paar tausend Euro am Bauch fest und reiste durch den Iran in Richtung Afghanistan. 30 Jahre war sie nicht mehr dort gewesen, und plötzlich stand sie mutterseelenallein an einem Grenzhäuschen und blickte auf eine staubige, von Panzerspuren zerfurchte Schotterwüste. Schmunzelnd beschreibt Mariam Notten ihr Selbstmitleid, selbstkritisch berichtet sie über die bittere Anklage, die sie dem ein paar Minuten verspäteten Fahrer entgegenschleuderte, der sie abholen sollte. Die 61-Jährige ist eine gute Erzählerin; wenn sie Orte, Menschen und Situationen schildert, entstehen sofort Bilder, Gerüche, Geräusche.
In einem Dorf im Südwesten baute sie ihre Schule
Zwei Wochen hatte sich Mariam Notten damals Zeit genommen. Ihr Ziel war klar: Sie wollte den Grundstein für eine neue Schule legen. Seit der Herrschaft der Taliban hatten afghanische Mädchen keine Chance mehr gehabt, Lesen und Schreiben zu lernen. In einem abgelegenen Dorf in der südwest- afghanischen Provinz Nimroz überzeugte sie sofort zwei Bewohner, ihr ein Grundstück für das Projekt zu schenken. Dann ging sie zum Gouverneur, offenbarte den Plan und nannte ihre Bedingungen: Kein einziger Cent darf für die Verwaltung des Geldes draufgehen, kein Cent als Schmiergeld gezahlt werden. Außerdem muss die Provinzregierung noch einmal ein Drittel des von ihr mitgebrachten Betrags drauflegen.
Der Mann war einverstanden. Noch vor ihrer Abreise zeigte das Lokalfernsehen die Feier mit dem ersten Spatenstich, und jeder Zuschauer wusste nun, wie viel Geld für das Projekt zur Verfügung stand. Seither fährt Mariam Notten jedes Jahr dorthin. Inzwischen unterrichten 50 Lehrer etwa 2000 Kinder im Drei-Schicht-Betrieb, und auch ein Waisenhaus und eine von alleinstehenden Müttern betriebene Bäckerei wurden errichtet. Nach ihrer Heimkehr bekommen die Spender jedes Mal ausführliche Berichte und Fotos, die auch Rückschläge nicht verschweigen.
Mariam Notten ist spontan, witzig, hat Sinn für Ironie. Wenn sie lacht - was sie oft tut - tut sie es aus vollem Hals. "Manchen Kollegen geh' ich damit manchmal auf die Nerven", sagt sie, die seit 18 Jahren an einer Fachschule für Sozialpädagogik Soziologie unterrichtet. Ihre Schüler mag sie, und wenn sie selbst mal unsicher ist, wie man ein Wort schreibt, dann fragt sie sie einfach. Die eigene Fehlbarkeit preiszugeben, macht ihr ebenso wenig aus, wie sich bei einem Schüler zu entschuldigen. Dass sie die einzige Lehrerin an ihrer Schule ist, die nicht aus Deutschland stammt, spiegelt für sie eine Dünkelhaftigkeit und Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens wider: "Die Qualifikation, unterrichten zu können, ist schließlich nicht angeboren, sondern erwerbbar."
Der Krieg machte sie für lange Zeit zur Exilantin
Doch nie käme Mariam Notten auf den Gedanken, dass der wachsende Rassismus in Deutschland für sie zum Problem werden könnte. Zwar nerve es, wenn sie - wie vergangene Woche in Ostberlin - Leute nach dem Weg frage und einfach keine Antwort bekomme. Doch dann bricht sofort die studierte Soziologin in ihr durch: "Die erleben sich als Menschen zweiter Klasse und projizieren ihre Probleme auf mich." Unfähig oder unwillig, die wahren Ursachen ihrer Lage zu erkennen, richteten sie sich an der Vorstellung von Ausländern als dritter Klasse auf. "So etwas trifft und betrifft mich aber gar nicht." Mariam Notten ist stolz, Afghanin zu sein.
40 Jahre ist es her, seit sie nach West-Berlin kam. Damals hatte sie ein Stipendium bekommen, um eine Ausbildung zur Krankenschwester in Deutschland zu absolvieren. Sie genoss das freie Leben und wollte doch über kurz oder lang zurückkehren. Erst die politische Situation in ihrer Heimat machte sie für lange Zeit zur Exilantin. Doch wenn sie in drei oder vier Jahren in Deutschland pensioniert wird, dann will die Soziologin weiterarbeiten - in ihrer alten - neuen Heimat Afghanistan.
Spendenkonto: Scheherazade e.V. Kontonr. 7332849004 BLZ 10090000 Berliner Volksbank
Mariam Nottens Urgroßmutter wurde umgebracht, um die Familienehre zu retten. Ihre Mutter versuchte vergeblich, sich gegen eine Zwangsehe zu wehren. Sie selbst verheiratete ihre jüngere Schwester, um eine neue Bluttat zu verhindern. Als 20-Jährige verließ Mariam Notten Afghanistan. Nachdem die Sowjets das Land besetzt hatten, reiste sie nach Indien und Pakistan, um von dort aus die Flucht ihrer Schwester zu organisieren - mit Erfolg. In dieser Zeit lernte sie unter den afghanischen Exilanten viele aus dem demokratischen Widerstand kennen. Ich wählte die Freiheit ist als Sachbuch des Monats ausgezeichnet worden - darin schildert Mariam Notten die bewegte und bewegende Geschichte ihrer Familie, ihres Landes und ihres eigenen Lebens. Mariam Notten: Ich wählte die Freiheit. dtv. 9,50 Euro