Ausgabe 03/2008
Auf einen Blick
Von Jenny Mansch |Auf einen Blick
Um die Zukunft der Lebensmittelkennzeichnung wird auf politischer Ebene heftig gestritten. Derweil wird der Kunde am Nasenring durch den Supermarkt geführt
Schneller ginge der Einkauf mit der Ampelkennzeichnung aller Lebensmittel auch
Der ältere Herr am Kühlregal hat die Brille auf der Stirn, am linken Arm den Einkaufsbeutel, rechts hängt das Einkaufskörbchen. Er bemüht sich, mit dem Ellbogen die Brille über die Augen zu schieben, kneift die Augen zusammen und versucht, die Zahlentabelle auf dem Quark-Becher zu entziffern. Er knirscht mit den Zähnen. "Ich hab die falsche Brille mit." Gleich nebenan ermuntert eine Mutter ihr Kind, sich Fruchtzwerge auszusuchen. Das geht schnell. Das Kind greift ohne zu zögern zu den Bechern in rot-lila, die Farben weisen ihm den Weg zu Himbeer- und Erdbeergeschmack.
Wer sich über die Inhaltsstoffe der Lebensmittel informieren will, hat es nicht leicht. Brille und Taschenrechner sowie Kenntnisse über Prozent- und Bruchrechnung sollten beim Einkaufen mitgeführt werden, um zumindest ungefähre Werte aus den Angaben errechnen zu können. Dabei wird allenthalben geraten, sich "ausgewogen" zu ernähren, so alarmierend sind die Ergebnisse der jüngsten Verzehrstudie. Mehr als zwei Drittel der Männer und die Hälfte aller Frauen sind viel zu dick. Selbst unsere Bundeswehrsoldaten schleppen zu viel Hüftgold durch die Gegend. Das belastet nicht nur Herz und Knochen, sondern kostet später unser aller schönes Geld.
So einfach geht's
Dass die Angaben über Nährwerte zu kompliziert sind, um es den Verbrauchern zu ermöglichen, sich gesünder zu ernähren, hat man in England längst erkannt. Auch dort sind die Folgen schlechter Ernährung, vor allem der Schulkinder, erschreckend. Deshalb wurde im März 2006 die so genannte Ampelkennzeichnung für Lebensmittel eingeführt, zunächst noch auf freiwilliger Basis. Drei Ampelfarben helfen dort bei der schnellen Orientierung, ob der Gehalt an Fett, gesättigten Fettsäuren, Salz und Zucker eines Produkts "hoch, mittel oder gering" ist. Rot bedeutet, dass man es in geringen Mengen oder nur gelegentlich essen sollte. Gelb, dass es ohne Bedenken regelmäßig verzehrt werden kann, und Grün, dass es die gesündere Alternative ist. Eine Tiefkühlpizza erhält zum Beispiel bei Fett einen roten Punkt, und rät damit auf einen Blick, diese nicht zu oft zu essen. Die bei Kindern so beliebten Mirácoli weist die Ampel mit gelben Punkten für Fett und gesättigte Fettsäuren und zwei grünen für Zucker und Salz als - wer hätte das gedacht - unbedenklich bis gesund aus.
Wie sich herausgestellt hat, wird das System vom Verbraucher und vor allem von Kindern und Jugendlichen augenblicklich verstanden. Das Einkaufsverhalten der Briten hat sich bereits so verändert, dass einzelne Hersteller ihre Produkte verbessert haben, um die roten Punkte zu vermeiden. Die Befürchtungen der Lebensmittelindustrie, ganze Produktgruppen wie Schokolade oder Olivenöl würden durch die roten Punkte diskriminiert und die Verbraucher zugleich verdummt, haben sich als Unsinn erwiesen. Die Kunden verstehen, dass man angesichts roter Punkte nicht ganz auf ein Produkt verzichten muss. Die britische Regierung setzt daher weiter auf die Ampel und hat der Industrie angedroht, sollte diese die Ampel nicht freiwillig einführen, werde der Gesetzgeber die Verantwortung für die Ernährung der Bevölkerung per Gesetz übernehmen.
Warum einfach, wenn's auch kompliziert geht
Von einem solchen Schritt ist man hierzulande weit entfernt. Wie aus einem Dokument hervorgeht, das der Organisation Foodwatch vorliegt, hat Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) dem Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde (BLL) schon vor einem dreiviertel Jahr schriftlich zugesichert, die Ampel in Deutschland nicht einzuführen. Gegen den anschwellenden Widerstand von Grünen und SPD verteidigt Seehofer sein Prinzip "1+4" für eine "erweiterte" Nahrungsmittelkennzeichnung. Hier wird der Gehalt an Fett, gesättigten Fettsäuren, Salz und Zucker plus Brennwert bezogen auf die Portion angegeben sowie unter Bezug zu den Richtwerten für die empfohlene Tageszufuhr. Die Nährwertangaben für die erwähnte Tiefkühlpizza sähen laut Seehofer so aus: 25,2 g Fett pro Portion oder 36 Prozent des empfohlenen Tagesbedarfs. Nur, dass mit Portion die halbe Pizza gemeint ist und sich der Tagesbedarf auf eine erwachsene Frau aus Mitteleuropa bezieht, die 2000 Kalorien am Tag zu sich nimmt. Das komplizierte Rechnen bleibt, das schwammige Ergebnis auch.
Laut Seehofer hat sich der Verbraucher diese Behandlung redlich verdient, als mündiger und informierter Bürger nämlich. Die Ampel sei holzschnittartig und trenne die Lebensmittel in gut und böse. Sein Argument: "Es gibt nur eine ausgewogene oder unausgewogene Ernährung." Darüber rauft sich auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung das Haar. Die Angabe von Tagesbedarf und Portionen sei unwissenschaftlich und liefere höchst zweifelhafte Ergebnisse, hat sie festgestellt.
Woher nimmt also der "mündige" Bürger die Ernährungskompetenz? Ein Schulfach "Ernährungslehre" gibt es nicht, die Kinder lernen vom Verhalten der Erwachsenen. "Wir glauben, dass Seehofer die Ampel nicht verstanden hat. Würde er sich nicht als Minister der Lebensmittelindustrie fühlen, müsste er den Zusammenhang von Bildungsferne und Ernährungsproblemen klar erkennen und sich für die Ampel aussprechen", so Andreas Eickelkamp von Foodwatch. Die Organisation setzt sich für die leicht verständliche Ampel ein, auf ihrer Website hat sie eine Mitmachaktion gestartet.
Seehofer jedoch hat sich gerade den Vorsitzenden der Verbraucherministerkonferenz, Otmar Bernhard (CDU), ins Boot geholt, um sein 1+4-Modell erst länderweit, dann für ganz Europa durchzudrücken. "Das Hauptthema ist die gesellschaftliche Verantwortung der Industrie", sagt Andreas Eickelkamp und hofft auf eine breite Debatte darüber, inwieweit wir die Unternehmen in die Pflicht nehmen wollen.
Hier ist mehr drin
www.das-ist-drin.de - Ernährungsseite mit exemplarischen Beispielen zum Vergleich von Ampelkennzeichnung und 1+4-Modell anhand einzelner Produkte. www.vzhh.de - Hier zeigt die Verbraucherzentrale Hamburg, wie die Lebensmittelindustrie Fett und Zuckergehalt ihrer Produkte kleinrechnen.
www.foodwatch.de - Alles rund um die Ampelkennzeichnung, Seehofers Schreiben an den BLL sowie eine Mitmachaktion für Verbraucher, um den Minister noch umzustimmen.
www.food.gov.uk - offizielle Ernährungsseite der britischen Regierung. www.dge.de - Stellungnahmen der Deutschen Ernährungsgesellschaft zur Lebensmittelkennzeichnung.