Der Bremer Soziologe Bernard Braun betreibt in seiner Freizeit gemeinsam mit Kollegen einen bundesweit wohl einmaligen Internetauftritt zur Gesundheitspolitik. Er will damit zur Verteidigung der solidarischen Krankenversicherung beitragen

Von Eckhard Stengel

"Wir lesen täglich ungefähr 150 Seiten an neuen gesundheitswissenschaftlichen Studien und fassen sie zusammen."

1949 in Reutlingen geboren, studiert Bernard Braun ab 1968 zunächst Medizin in Tübingen und ab 1970 Gesellschaftswissenschaften in Marburg. Nach dem Diplom wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Bildungssoziologie. Ab 1980 erste gesundheitswissenschaftliche Studien bei der Dortmunder Gesellschaft für Arbeitsschutz- und Humanisierungsforschung. 1987 Promotion und Wechsel an die Universität Bremen, wo er seit 1999 an einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Gmünder Ersatzkasse mitwirkt.

"Herr Doktor, ich hätte da mal eine Frage zu Diabetes." Nein, bloß das nicht! Bernard Braun ist kein "Dr. med.", sondern "Dr. rer. pol.", also Sozialwissenschaftler. Dass der 59-Jährige trotzdem um medizinischen Rat gefragt wird, hat er sich selbst eingebrockt: Er ist Hauptverantwortlicher der Internetseite Forum Gesundheitspolitik. Das ist eine privat betriebene, in dieser Themenfülle vermutlich einzigartige Informationsplattform zu allen Fragen des Gesundheitssystems - aber eben nicht zur persönlichen Beratung.

Dabei ist Dr. Braun ein Hilfsbereiter, ein Menschenfreund. Der weißhaarige Bartträger versprüht viel Humor. Und arbeitet noch viel mehr. Tagsüber sitzt er im Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen und schreibt dort gesundheitswissenschaftliche Studien über Zahntechniker oder Geburtshilfe. Abends beginnt dann zu Hause sein unbezahlter Nebenjob.

In der Arbeitshöhle

Fast täglich zieht sich der geschiedene Vater einer erwachsenen Tochter in seine "Arbeitshöhle und Arbeitshölle" zurück. Sie liegt im zweiten Stock eines Reihenhauses aus den 20er Jahren. Um zum Schreibtisch an der Balkontür zu gelangen, muss Braun erst Slalom laufen: Das Arbeitszimmer gleicht einem Labyrinth aus Holzregalen. Und bitte nicht über die Akten und Zeitungen auf dem Dielenfußboden stolpern! Wenn Braun von seinem Ganzseiten-Computerbildschirm aufblickt, schaut er auf Plakate von Rosa Luxemburg und August Bebel.

Hier also entsteht etwa die Hälfte der Forum-Beiträge. Die anderen stammen überwiegend von Bernard Brauns Institutskollegen Gerd Marstedt (62), der sich zudem um die Technik kümmert. Häufig steuern auch der Berliner Gesundheitswissenschaftler Jens Holst und der Regensburger Sozialmediziner David Klemperer Artikel bei.

Die Auswahl ist enorm. Rund 1200 Texte haben sich inzwischen angesammelt. Sie heißen "Beschneidung von Männern reduziert HIV-Risiko um etwa die Hälfte" oder "Berufliche Belastungen in Europa 1990 bis 2005: Arbeitsin-tensität und Zeitdruck sind massiv gestiegen".

Am wichtigsten jedoch findet Bernard Braun die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung. Das langjährige ver.di-Mitglied hält das Gesundheitswesen zwar für reformbedürftig. "Aber die Grundprinzipien dieses sozialen und solidarischen Systems müssen verteidigt werden" - gegen jene Lobbyisten, die es "fertigmachen wollen durch Märchen und durch die Verbreitung von Unwahrheiten".

Vier Beiträge pro Tag

Der Diplom-Soziologe mit der flachen Lesebrille greift zu einem Fischer-Taschenbuch: Das Märchen von der Kostenexplosion. Populäre Irrtümer zur Gesundheitspolitik. Er hat es gemeinsam mit den Gesundheitsexperten Hagen Kühn und Hartmut Reiners verfasst, um zum Beispiel die Mär von den zu hohen Lohnnebenkosten zu widerlegen: 1998 betrugen die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber im produzierenden Gewerbe gerade mal 1,08 Prozent ihrer Gesamtkosten.

Das Buch war schnell vergriffen. Leser forderten eine erweiterte, aktualisierte Ausgabe. Aber Bernard Braun und seine Mitautoren hatten dafür keine Zeit. Die weniger arbeitsaufwändige Alternative: der Gang ins Internet. So entstand im September 2005 www.forum-gesundheitspolitik.de.

"Wir lesen täglich ungefähr 150 Seiten an neuen gesundheitswissenschaftlichen Studien und fassen sie zu durchschnittlich vier Beiträgen am Tag zusammen", erzählt Bernard Braun mit ausholender Gestik. Das macht ihm und seinem Kollegen Marstedt so viel Spaß, dass sie nicht mal aufs Geld schauen. Das Billigste ist der externe "Server", also jener Computer, der die Artikel ins Internet stellt. Er kostet nur 40 Euro Miete pro Vierteljahr. Etwas teurer sind jene Hilfskräfte, die gelegentlich überprüfen, ob die Internet-Querverweise auf Originalstudien noch stimmen. Und 400 bis 500 Euro pro Jahr gehen für den Zugang zu Wissenschaftszeitschriften drauf. "Aber das ist uns das Vergnügen wert", sagt Braun und lacht.

Mit Sponsoren jeglicher Art wollen er und Marstedt nichts zu tun haben. Sie bleiben lieber unabhängig. Bei den monatlich 25000 bis 30000 Nutzern - vor allem Wissenschaftler und Studierende, aber auch Politiker, Journalistinnen und Gewerkschafter - kommt das gut an. "Die Reaktionen sind nur positiv", sagt er.

Einer der ver.di-Berater

Was gibt ihm die Kraft zu dieser Zusatzarbeit? Sein "Helfersyndrom". Weil er gern anderen Menschen hilft, wollte er zunächst Mediziner werden. Doch nach drei Schnuppersemestern hatte der gebürtige Schwabe "die Nase voll", wie er ohne jedes Schwäbeln feststellt. "Man erfuhr mehr über Elektronen als über den Menschen."

Damals war er bei den Jusos aktiv, später leitete er den Sozialistischen Hochschulbund. Heute ist er ein freischwebender Linker und sitzt in einem Expertengremium, das den ver.di-Bundesvorstand in Sachen Gesundheitspolitik berät.

Die Gewerkschaft bereitet ihm allerdings manchmal Bauchschmerzen. Zum Beispiel würde er sie gern dazu bringen, sich klarer für die gesetzliche Krankenversicherung einzusetzen. Doch das geht nicht so einfach, weil ein Teil der Mitglieder bei den Privatversicherungen arbeitet.

Aber Bernard Braun bleibt Optimist. "Ich spucke nicht Gift und Galle. Ich sehe noch Fortschritte - und mache ein bisschen Nadelstichpolitik", sagt er und feixt.

Bernard Braun

1949 in Reutlingen geboren, studiert Bernard Braun ab 1968 zunächst Medizin in Tübingen und ab 1970 Gesellschaftswissenschaften in Marburg. Nach dem Diplom wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Bildungssoziologie. Ab 1980 erste gesundheitswissenschaftliche Studien bei der Dortmunder Gesellschaft für Arbeitsschutz- und Humanisierungsforschung. 1987 Promotion und Wechsel an die Universität Bremen, wo er seit 1999 an einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit der Gmünder Ersatzkasse mitwirkt.