Dass Schichtarbeit, vor allem Nachtarbeit, ungesund ist, weiß man schon lange. Nun aber steht sie unter dem dringenden Verdacht, Krebs zu verursachen

Wenn das Tageslicht fehlt. Nachtschicht

"Um wie viel Uhr werden Sie abends müde und haben das Bedürfnis, schlafen zu gehen?" Oder: "Wie ist Ihr Appetit in der ersten halben Stunde nach dem Aufwachen?" Barbara Griefahn vom Institut für Arbeitsphysiologie der Universität Dortmund will es ganz genau wissen. Mit einem Fragebogen versucht sie zu ermitteln, welchem "Chronotyp" Menschen angehören. So genannte "Lerchen" sind schon früh hellwach, dafür abends aber auch schneller müde. Die "Eulen" hingegen kommen morgens nur schwer aus den Federn, gehen dafür spät ins Bett. Beide Typen stecken es unterschiedlich weg, wenn sie zu Schichtarbeit herangezogen werden. "Lerchen leiden ganz besonders unter Nachtarbeit", fand Griefahn heraus. "Spättypen hingegen tun sich eher mit Frühschichten schwer." Eine Pilotstudie im Dortmunder "Schichtarbeitsraum", bei der unter experimentellen Bedingungen die Werte des Hormons Cortisol gemessen wurden, ergab Hinweise darauf, dass Morgentypen eher gefährdet sind, bei häufiger Nachtarbeit Herzkreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.

Schichtarbeit ist nicht gesund. Das zumindest steht fest. Die künstliche Abkopplung des Körpers vom normalen 24-Stunden-Tagesrhythmus führt zu massiven Schlafstörungen. Statistisch nachgewiesen sind erhöhte Risiken für chronische Verdauungsbeschwerden, Anfälligkeit für Infektionen, Diabetes, Herz-Kreislauf-Leiden. Anfang 2008 stellte das Nationale Forschungszentrum zum "Working Environment" in Dänemark fest, dass insbesondere Frauen, die auf Dauer Nachtschichten leisten müssen, ein höheres Frühinvaliditätsrisiko haben als Tagschichtbeschäftigte.

Fast zeitgleich alarmierte eine Eilmeldung des IARC, des Krebsforschungszentrums der Weltgesundheitsorganisation. Die Expertengruppe stufte Nacht- und Schichtarbeit als "wahrscheinlich krebserregend" ein, stellte sie auf eine Ebene mit gefährlichen Arbeitsstoffen wie Bleifarbe, UV-Strahlen, Schwermetallen und PCB. Eine Langfassung der Studie soll in diesem Jahr veröffentlicht werden. Sie stützt sich insbesondere auf Erkenntnisse aus Japan und den USA, wonach Schichtarbeit bei Männern mit einem erhöhten Risiko von Prostatakarzinomen einhergeht, bei Frauen mit einem höheren Risiko von Brust- und Dickdarmkrebs. Angesichts der Tatsache, dass "fast 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Europa und Nordamerika in Schichtarbeit einbezogen ist", vor allem im Gesundheitswesen, in der Industrie, im Transport- und Kommunikationswesen, fordert der IARC-Spezialist Vincent Cogliano weitere Studien, um "potenziellen Risiken auch bei anderen Berufen und anderen Krebsformen nachzugehen".

Mangel an Schlafhormonen

Die IARC-Forscher vermuten, wie viele andere Experten, einen Zusammenhang mit dem "Schlafhormon" Melatonin, es wird vom Körper nur in der nächtlichen Dunkelheit ausgeschüttet. Aus Tierversuchen weiß man, dass ein Melatonin-Mangel die Entstehung von Tumoren begünstigen kann. Nachtarbeit findet in beleuchteten Räumen statt, die Mitarbeiter gehen im Hellen nach Haus. Durch die anhaltende Verminderung der Melatoninproduktion könnte der vermutete Krebsschutz also entfallen.

Noch ist das nur eine Hypothese. Doch jede neue wissenschaftliche Erkenntnis stellt den Arbeitsschutz vor neue Herausforderungen. Das Arbeitszeitgesetz von 1994 fordert, die Arbeitszeit von Nacht- und Schichtarbeitnehmern "nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit" festzulegen. "Gerade bei der Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit kommt es darauf an, die biologischen Rhythmen der Beschäftigten stärker zu berücksichtigen als dies häufig der Fall ist, damit weder Mensch noch Maschine aus dem Takt geraten", schreibt Ulrike Hellert vom "Zeitbüro NRW", das vom Arbeitsministerium Nordrhein-Westfalen gegründet wurde.

Das Institut bietet professionelle Beratung bei der Gestaltung von Schichtplänen an. Als günstig hat es sich etwa erwiesen, die Übergänge bewusst an den biologischen Rhythmus anzupassen, so dass sie im Uhrzeigersinn verlaufen - im Idealfall von der Früh- über die Spät- zur Nachtschicht. Beschäftigte in solchen vorwärts-rotierten Systemen klagen in der Regel über weniger Beschwerden als in rückwärts-rotierten. Dabei sollten Frühschichten nicht zu früh beginnen, um Schlafdefizite zu vermeiden - und Nachtschichten möglichst früh enden, weil der Tagschlaf desto erholsamer ist, je früher er beginnt. Widersprüche ließen sich, so die Experten, gegebenenfalls durch Gleitzeitmodelle überbrücken.

Dass es "kein Patentrezept" für ideale Schichtpläne gibt und sich nicht alle wissenschaftlichen Empfehlungen in die Praxis umsetzen lassen, weiß auch Beate Beermann von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA): "Jedes Unternehmen muss seine eigenen Präferenzen analysieren und gemeinsam mit den Beschäftigten ein maßgeschneidertes Schichtmodell festlegen."

Idealerweise würden Schichtpläne sogar auf den "Chronotyp" einzelner Mitarbeiter zugeschnitten. Ein heikles Thema. Ihr Fragebogen sei schon von größeren Firmen angefordert worden, sagt Barbara Griefahn von der Universität Dortmund. Allerdings habe man sie bislang noch nie darüber informiert, zu welchen Zwecken und mit welchem Ergebnis er eingesetzt wurde. Gesundes Misstrauen kann nicht schaden. Wer sich um einen Job bemüht, kriegt im Bewerbungsgespräch vielleicht eine harmlos klingende Frage gestellt: "Wie wach fühlen Sie sich morgens in der ersten halben Stunde nach dem Aufwachen?" Wer sich als "Lerche" enttarnt, könnte das Nachsehen haben bei einer Arbeitsstelle, bei der Spätschichten vorgesehen sind. Dafür macht die "Eule" dann das Rennen.

Literatur und Adressen

Online-Fragebogen, Institut für Arbeitsphysiologie der Universität Dortmund www.ifado.de/topic/fuer_die_praxis/ morgenabendtyp/index.php

Einen ähnlichen Fragebogen entwickelte Till Roenneberg vom Institut für Medizinische Psychologie der LMU München: http://hwz-muenchen.de/index.php?id=977

Neu im Buchhandel: Ulrike Hellert: Praxis der Nacht- und Schichtplangestaltung. Mit Ernährungsempfehlungen von Wolfgang Sichert-Hellert, Lit Verlag 2008, 80 Seiten, 19,90 Euro