Ausgabe 11/2009
Am Ende steht das Chaos
Tränen, Trauer und Wut. 1000 Menschen kamen am 4. November zum Quelle-Versandzentrum Nürnberg
Ausgerechnet in dem Raum, in dem Heidi Sohnle vor 17 Jahren als Datentypistin ihre Arbeit bei Quelle begann, sitzt nun die "Nebenstelle" der Bundesagentur für Arbeit. Sohnle, heute Betriebsratsvorsitzende bei der Primondo Management Service in Nürnberg, hatte ein mulmiges Gefühl, als sie im Oktober ihr erstes Gespräch bei einer Arbeitsberaterin hatte. "Da haben sich Anfang und Ende meiner Arbeit für Quelle unmittelbar berührt."
So wie ihr geht es in diesem Spätherbst Tausenden von Primondo-Beschäftigten. Primondo ist die Gesellschaft, unter deren Dach das Versandunternehmen Quelle und zahlreiche Servicefirmen zusammengefasst sind, die den technischen Kundendienst (Profectis), das Auslandsgeschäft und weitere Dienstleistungen im Umfeld des Versandgeschäfts abwickeln. Am 19. Oktober stand fest, dass es keine Investoren für das Kerngeschäft, also Quelle, geben wird. Seit dem Sommer befindet sich Primondo als Tochter des Arcandor-Konzern in Insolvenz. Wochenlang hatte der Insolvenzverwalter Klaus Hubert Görg Hoffnungen geweckt, dass die Versand-sparte verkauft und viele Arbeitsplätze gerettet werden könnten. Der "gesunde Kern" von Quelle/Primondo sollte herausgeschält werden, dafür müssten 3 100 Arbeitsplätze abgebaut werden, hieß es am 13. August. Anfang Oktober wurden weitere 800 Stellen zur Disposition gestellt. Die Betriebsräte hatten bereits die Interessenausgleiche und Sozialpläne unterschrieben. Dann kam die Nachricht, dass die Investoren abgesprungen seien. Laut Insolvenzverwalter trugen die Banken die Schuld daran, die das so genannte Factoring zur Finanzierung des Versandgeschäfts nicht ausreichend fortführen wollten. Die Banken widersprachen umgehend. "Für alle war der gesamte Investorenprozess nicht transparent", erklärt Johann Rösch, der zuständige ver.di-Sekretär. "Seitdem wurde deutlich, dass der Insolvenzverwalter keinen Alternativplan hatte. Dementsprechend chaotisch begann die Abwicklung von Primondo." Inzwischen geht es nur noch um Ausverkauf und Freisetzen - alles so schnell wie möglich.
18 Millionen Teile
"Es fehlt an konkreten Plänen für die einzelnen Bereiche des Unternehmens", kritisiert Betriebsrätin Heidi Sohnle. So fühlen sich viele Mitarbeiter/innen durch die täglich neuen Meldungen über die Schlussphase ihres Betriebs zusätzlich verunsichert. "Katastrophal" sei es, wie die Insolvenzverwaltung mit den Menschen umgehe, stellt Johann Rösch fest. "Da haben Beschäftigte, die seit Jahrzehnten im Betrieb arbeiten, Ende Oktober von ihrer Freistellung zum 1. November per Anruf oder SMS erfahren." Rund 2 000 Menschen waren von dieser Aktion betroffen.
Chaos gab es auch beim Verkauf des aus 18 Millionen Einzelteilen bestehenden Sortiments des Versandhauses. Geschäftspartner DHL verweigerte die Auslieferung. Zunächst sollten unbezahlte Rechnungen beglichen werden. Am letzten Oktobertag hieß es, dass der Insolvenzverwalter Geld für DHL aufgetrieben hatte und der "größte Ausverkauf in der Geschichte der Bundesrepublik" (Görg) beginnen konnte. Rund 4300 Beschäftigte werden für dieses letzte Geschäft eingesetzt, wie lange, ist unklar.
Die Liste der offenen Fragen ist noch länger: Was passiert mit Primondo-Dienstleistern wie den vor wenigen Jahren neu errichteten und hoch subventionierten Callcentern? Wie geht es mit Profectis, wie mit dem Auslandsgeschäft weiter? Fest steht, dass sich die Arbeitslosigkeit im Raum Nürnberg/Fürth, dem Quelle-Stammsitz, erhöhen wird, "von 8,5 auf über zwölf Prozent", so Johann Rösch. ver.di und die Betriebsräte setzen auf Qualifizierungsangebote für die Neu-Arbeitslosen. "Im November werden wir mit der Bundesagentur für Arbeit und der bayerischen Staatsregierung in einem weiteren Arbeitsgespräch über die Finanzierung eines solchen Sofortprogramms reden. Dabei geht es um eine gezielte Qualifizierung der Primondo-Beschäftigten, mit der sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen." Auch dafür demonstrierten die Mitarbeiter/innen am 4. November bei einem "Öffentlichen Aufschrei" vor dem Quelle-Versandzentrum.