...dass ich so alt geworden bin

Von Claudia von Zglinicki

Im März musste die Schriftstellerin Elfriede Brüning eine Lesung bei ver.di Berlin absagen. Aber nur wegen einer Erkältung, nicht wegen ihres Alters. Wenn man sie fragt, ob es einen neuen Termin geben wird, blitzen ihre Augen: unbedingt. Elfriede Brüning ist 100 Jahre alt, es ist kaum zu glauben. Sie ist zart und weißhaarig, ihre Fingernägel sind sorgfältig lackiert. Ihr Gang ist vorsichtig und langsam, doch sie spricht lebhaft und erinnert sich genau. Sie erzählt gern. Aber sie schreibt jetzt nicht mehr, auch Briefe nur noch, wenn es unbedingt sein muss. Dafür braucht sie ihre Brille mit schmalem Goldrand. Tagebuch hat sie nie geführt, das bedauert sie heute, doch in der Nazizeit war es zu gefährlich und danach hat sie anderes verfasst. Und jetzt habe sie sich ausgeschrieben, sagt sie.

Sie hat schon als Schulkind Geschichten erfunden und wollte nie etwas anderes tun als schreiben. Doch nun ist es vorbei. "Leider", sagt sie, "ich finde es furchtbar, so untätig durchs Leben zu gehen." Ihre alte Schreibmaschine steht noch auf dem zierlichen Sekretär in ihrer Wohnung in einem Hochhaus mitten in Berlin. Sie plant, sich einen Computer zu kaufen, um besseren Kontakt zu ihrer Enkelin zu haben, die in Afrika arbeitet. Manchmal ruft sie an, häufige E-Mails wären besser. Die Tochter lebt in Italien, da ist es mit den Anrufen einfacher.

Schwere Zeiten

Sagte ein kleines Mädchen Anfang der 20er Jahre in der Schule, es wolle Journalistin werden, galt das als verrückt. Doch Elfriede Brüning lässt sich nicht irritieren. Als Sekretärin einer Filmzeitschrift gelingt es ihr mit Hilfe einer selbstverfassten Referenz, in der Redaktion des Berliner Tageblatts empfangen zu werden. Ein kleiner Betrug, aber er hilft. Ihre ersten Feuilletons werden gedruckt. Sie schwebt auf Wolken: "Ich hatte einen blendenden Anfang." Nur ihre Freunde vom Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller finden die Texte zu romantisch und fordern sie auf, sich der Realität der Weimarer Republik zu stellen. Sie versucht sich an Betriebsreportagen, die nun in roten Blättern erscheinen.

"Wann beginnt das Alter? ...wenn man spürt, dass einen niemand mehr braucht? Wenn uns keiner mehr befragt? Wenn uns Jüngere wohlmeinend an den Rand verweisen, wo wir ihrer Meinung nach hingehören?"

Elfriede Brüning in ihrer Autobiographie

Im Herbst 1932 entschließt sich Brüning, künftig als freie Schriftstellerin zu arbeiten. Ein riskanter Schritt. Im Februar 1933 ist ihr erstes Buch fertig, zu spät, um noch gedruckt zu werden. Die Nazis sind schon an der Macht, auch der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller wird verboten. Am 10. Mai 1933 trifft sie die Bund-Freunde wieder, auf dem Berliner Opernplatz. Sie sehen mit an, wie die Nazis ihre liebsten Bücher verbrennen. Die Gruppe arbeitet von da an illegal, schreibt Berichte aus Berlin, die in antifaschistischen Blättern in Prag gedruckt werden. Elfriede Brüning fährt einige Male als Kurier nach Prag. Doch die Gruppe fliegt auf, alle werden 1935 verhaftet. Die Kurierfahrten können Elfriede Brüning nicht nachgewiesen werden; sie wird aus der Haft entlassen, bleibt in Deutschland, abgeschnitten von der Entwicklung der Weltliteratur, wie sie es empfindet, immer voller Sehnsucht nach dem Ende der Nazizeit.

1937 heiratet sie, 1942 wird ihre Tochter geboren. Auf dem Gut der Eltern ihres Mannes kommen sie durch den Krieg. Und dann kann sie endlich wieder nach Berlin zurück - und weiter schreiben. Schon 1949 erscheint das Buch, das sie heute als "vielleicht mein wichtigstes" bezeichnet: ... damit du weiterlebst, über die Widerstandskämpfer Hilde und Hans Coppi.

Im neuen Staat

"Ich war eine Antifaschistin, ja, aber ich galt in der DDR oft als kleinbürgerlich. Zu wenig Typisches in meinen Büchern, zu wenig positive Helden." Bizarr wird es bei ihrem Buch über eine der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten, an denen Arbeiter/innen das Abitur nachmachen konnten. Die Studenten kritisieren empört, sie habe darüber geschrieben, wie sie wirklich seien - und nicht darüber, wie sie sein sollten. Die Dozenten verlangen sogar, die Exemplare aus dem Buchhandel zu entfernen. Wie verkraftet man solche Verrisse? Elfriede Brüning schreibt das nächste Buch. "Das hat mir immer geholfen."

Viele Jahre lebt die Schriftstellerin nach ihrer Scheidung 1947 in einem Frauen-Haushalt, mit der Mutter, der Tochter, dann auch der Enkelin, die sie zehn Jahre anstelle der als Dolmetscherin erfolgreichen Tochter betreut. "Für einen Mann war da wohl kein Platz mehr", sagt sie lächelnd. Und zum Bücherschreiben keine Ruhe. Sie schreibt Reportagen.

Als die Enkelin groß ist, rücken die Bücher wieder an die erste Stelle. Sie erinnert sich, schreckliche Gerüchte über Frauen und Männer gehört zu haben, die in den 30er Jahren in die Sowjetunion emigriert sind, darunter überzeugte Kommunisten. In den 30ern hatte Brüning alle beneidet, die nach Moskau gingen. Inzwischen weiß sie, dass viele der Frauen endlose Jahre in sibirischen Lagern eingesperrt waren. Eine davon war die Berliner Tanzpädagogin Anni Sauer, mit der Brüning in den 80ern lange Gespräche führt. Sie findet noch mehr Frauen, die endlich das Schweigen brechen und über die Haft in Sibirien reden. Anfang 1989 schreibt sie ihr Buch Lästige Zeugen? - und weiß, dass es in der DDR nicht erscheinen würde. Doch 1990 wird es gedruckt. Viele Buchhandlungen aber nehmen es nicht an, weil Platz für Titel aus der alten Bundesrepublik gebraucht wird.

Altwerden

Altwerden ist schwer, sagt Elfriede Brüning. Die Freundinnen und Freunde sterben. Krankheiten kommen, das Gehör lässt nach. Nur eines sei besser geworden: "Ich hatte immer schwere Migräne-Anfälle. Die waren mit 70 plötzlich vorbei." Sie lacht und streicht sich über die Stirn.

Altwerden heißt für sie auch, unbeweglich zu sein, an die Wohnung gebunden, auf andere angewiesen. Seit einem Jahr fährt sie zu ihrem Bedauern nicht mehr Auto. Mit 99 hat sie den Führerschein abgegeben, auf ihrer Webseite kann man ihre letzte Fahrt sehen. Nachbarn hatten behauptet, sie habe das Einparken nicht mehr im Griff. Stimmt nicht, sagt sie, aber sie gab nach: "Wenn die zuständigen Leute mein Geburtsjahr gesehen hätten, hätten sie mir den Führerschein sowieso weggenommen. Das Auto habe ich aber noch, manchmal fährt mich jemand anders." Im besten Falle geht es dann zu Lesungen. Die liebt Elfriede Brüning, sie hätte gern mehr davon, immer noch. Der Kontakt zu den Leserinnen und Lesern, das Gespräch mit ihnen, hält sie am Leben. Und die Familie. Zwei Urenkel hat sie, einer will Schauspieler werden, der andere studiert Kunst. Ein Bild von ihm hängt gegenüber ihrem Sofa, gemalt zu ihrem 99.

100 Jahre Leben

Elfriede Brüning

Geboren am 8. November 1910 in Berlin, ihr Vater war Tischler, die Mutter Mützennäherin und betrieb eine Leihbücherei.

Brüning veröffentlichte vor der Machtübergabe an die Nazis ihre ersten Feuilletons in großen Zeitungen. Sie wurde 1932 Mitglied der KPD und im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Ihr erstes Buch konnte in der Nazizeit nicht mehr erscheinen. 1970 wurde es unter dem Titel Kleine Leute in der DDR neu aufgelegt.

Mit anderen Mitgliedern des Bundes arbeitete sie nach 1933 illegal für antifaschistische Zeitschriften, die im Ausland verlegt wurden. Die Gruppe wurde 1935 von der Gestapo verhaftet. Der Prozess wegen Hochverrats gegen Elfriede Brüning endete mit Freispruch. Sie lebte in den Kriegsjahren in der Magdeburger Börde. 1946 kehrte sie nach Berlin zurück. Seit 1950 ist sie freischaffende Schriftstellerin.

Von ihren Büchern erschienen mehr als 1,5 Millionen Exemplare, so ...damit du weiterlebst über Hilde und Hans Coppi und Partnerinnen über die Konflikte von Frauen in der DDR zwischen Beruf und Familie. Die Autobiographie Und außerdem war es mein Leben entstand 1994. Elfriede Brüning ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) in ver.di.

www.elfriede-bruening.de

"Wann beginnt das Alter? ...wenn man spürt, dass einen niemand mehr braucht? Wenn uns keiner mehr befragt? Wenn uns Jüngere wohlmeinend an den Rand verweisen, wo wir ihrer Meinung nach hingehören?"

Elfriede Brüning in ihrer Autobiographie

100 Jahre Leben

Elfriede Brüning

Geboren am 8. November 1910 in Berlin, ihr Vater war Tischler, die Mutter Mützennäherin und betrieb eine Leihbücherei.

Brüning veröffentlichte vor der Machtübergabe an die Nazis ihre ersten Feuilletons in großen Zeitungen. Sie wurde 1932 Mitglied der KPD und im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Ihr erstes Buch konnte in der Nazizeit nicht mehr erscheinen. 1970 wurde es unter dem Titel Kleine Leute in der DDR neu aufgelegt.

Mit anderen Mitgliedern des Bundes arbeitete sie nach 1933 illegal für antifaschistische Zeitschriften, die im Ausland verlegt wurden. Die Gruppe wurde 1935 von der Gestapo verhaftet. Der Prozess wegen Hochverrats gegen Elfriede Brüning endete mit Freispruch. Sie lebte in den Kriegsjahren in der Magdeburger Börde. 1946 kehrte sie nach Berlin zurück. Seit 1950 ist sie freischaffende Schriftstellerin.

Von ihren Büchern erschienen mehr als 1,5 Millionen Exemplare, so ...damit du weiterlebst über Hilde und Hans Coppi und Partnerinnen über die Konflikte von Frauen in der DDR zwischen Beruf und Familie. Die Autobiographie Und außerdem war es mein Leben entstand 1994. Elfriede Brüning ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS) in ver.di.

www.elfriede-bruening.de