Deutschland hat die Rechte der Altenpflegerin Brigitte Heinisch auf freie Meinungsäußerung nicht ausreichend geschützt. Ein Urteil mit Pilotwirkung für Millionen Arbeitnehmer/innen

Und sie hat doch Recht bekommen: Brigitte Heinisch

Ein schönes Urteil ist das eine. Gerechtigkeit freilich ist damit noch lange nicht hergestellt. Brigitte Heinisch bekommt das gerade zu spüren. Die engagierte Altenpflegerin sitzt im Garten ihrer Berliner Laube, der kleine Springbrunnen plätschert, und eigentlich, denkt man, könnte sie jetzt entspannt sein. Nach sechs Jahren zermürbendem Kampf durch alle Instanzen gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber, den Berliner Gesundheitskonzern Vivantes, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Ende Juli entschieden: Deutschland hat die Rechte von Brigitte Heinisch auf freie Meinungsäußerung nicht ausreichend geschützt.

Fristlose Kündigung war nicht rechtens

Die Missstände im Pflegeheim, die Heinisch öffentlich und unterstützt von ver.di beklagt hatte, durfte sie zu Recht anprangern. Das öffentliche Interesse an der beanstandeten Vernachlässigung von Pflegebedürftigen, unzureichenden Hygiene und Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter, so die Straßburger Richter, sei höher einzustufen als das Interesse des Arbeitgebers an seiner Reputation. Die fristlose Kündigung, die Vivantes Heinisch deswegen 2005 aussprach, hätte folglich vom Landesarbeitsgericht Berlin und den nachfolgenden Instanzen missbilligt werden müssen, auch wegen der abschreckenden Wirkung auf andere Beschäftigte. 10.000 Euro Schadensersatz müsse Heinisch deswegen jetzt bekommen, zu bezahlen von der Bundesrepublik Deutschland.

"Angekommen ist das Geld bisher nicht bei mir", sagt Heinisch, "es hat sich auch niemand offiziell bei mir entschuldigt, und das, obwohl ich immerhin meine Arbeit verloren habe." Sie sieht jetzt wütend aus, sie hat das Recht auf ihrer Seite, aber was sie tatsächlich damit anfangen kann, ist ungewiss. "Ob ich jemals wieder das Recht haben werde, in meinen alten Job zurückzukehren, ist ebenfalls völlig unklar", sagt sie.

Denn das Urteil aus Straßburg, erklärt ihr Rechtsanwalt Benedikt Hopmann, hat zunächst einmal keine Auswirkung auf die diversen Urteile in Deutschland. Hier war Heinisch bis vor das Bundesverfassungsgericht gezogen, um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Rücknahme der Kündigung durchzusetzen - erfolglos. Immerhin, so der Anwalt Hopmann, ermögliche der Erfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass Heinisch hierzulande nun auf Wiederaufnahme des Verfahrens klagen könne, damit die arbeitsgerichtlichen Urteile aufgehoben würden. "Wenn das passiert", so Hopmann, "dann muss Brigitte Heinisch wieder so gestellt werden, als sei sie seit 2005 nicht gekündigt worden". In der Konsequenz hätte die heute 50-jährige Altenpflegerin, die derzeit von einer Erwerbsminderungsrente lebt, auch einen Anspruch auf Betriebsrente.

Unabhängig vom Ausgang des Einzelfalls, sagt Benedikt Hopmann, werde die Straßburger Entscheidung aber in jedem Fall "eine Pilotwirkung weit über Deutschland hinaus haben, was Freiheitsrechte im Betrieb angeht". Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffe schließlich den Lebensraum von 800 Millionen Menschen.

Whistleblower müssen gesetzlich geschützt werden

In Deutschland haben bereits die Oppositionsparteien SPD, Grüne und Linke und der Deutsche Gewerkschaftsbund Konsequenzen gefordert: So genannte Whistleblower, also Arbeitnehmer, die in ihrem Betrieb Missstände von Interesse für die Allgemeinheit aufdecken, müssten gesetzlich vor Kündigung geschützt werden. Ein entsprechendes, geplantes Schutzgesetz der Großen Koalition war 2008 am Widerstand der Arbeitgeberverbände gescheitert, die Furcht vor Denunziantentum geltend machten.

Andere Staaten wie die USA sind da schon weiter: Whistleblower sind dort auch dann geschützt, wenn sie anschließend wegen ganz anderer, vorgeschobener Gründe aus dem Unternehmen gekantet werden sollen. In Deutschland dagegen, kritisiert die Antikorruptionsorganisation Transparency International, seien es die Arbeitnehmer, die das Risiko trügen, dass ihre Hinweise von den Vorgesetzten als Angriff auf die eigene Person oder das Unternehmen verstanden werden. Deutschland, so Transparency, habe sich im Rahmen des G20-Aktionsplans gegen Korruption jedoch dazu verpflichtet, bis Ende 2012 gesetzliche Regeln zum Schutz von Hinweisgebern einzuführen.

Und Brigitte Heinischs größter Wunsch? Die Auszahlung des entgangenen Lohns von sechs Jahren? Eine förmliche Entschuldigung ihrer ehemaligen Vorgesetzten sowie der verantwortlichen Politiker in aller Öffentlichkeit? Ach was. "Ich würde mir wünschen, dass die Privatisierung im Gesundheitswesen zurückgenommen wird", sagt sie. "Damit mit Gesundheit und Daseinsfürsorge kein Profit mehr gemacht werden kann."