Ausgabe 03/2021
Kompetenzen anerkennen und nutzen
Afshid Naseri hat einen langen Weg hinter sich. Sie musste aus dem Iran flüchten, wo sie wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde. Seit 2015 lebt Naseri in Deutschland. "In meiner Heimat habe ich zehn Jahre als Friseurin und Kosmetikerin gearbeitet", sagt die 36-Jährige. In Deutschland bewarb sie sich deshalb in zahlreichen Friseursalons. "Aber ohne einen Nachweis über meine Kenntnisse wollte mich niemand anstellen." Über Praktika versuchte Naseri, Fuß zu fassen. Doch mehr als das Haarewaschen der Kunden und Putzen wurde ihr nicht anvertraut. "Es war schlimm, ich wollte nicht wie eine Anfängerin behandelt werden", sagt sie. Über ein Jahr arbeitete Naseri dann auf Minijobbasis in einem Geschenkartikelladen. Dann wurde sie auf ValiKom aufmerksam gemacht, ein Projekt, in dem nicht bescheinigte Kompetenzen geprüft, bewertet und anerkannt werden. Naseri bewarb sich.
Bisher brauchte es in Deutschland Abschlüsse und Zertifikate, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Außerhalb von anerkannten Bildungseinrichtungen erworbene Kompetenzen wertzuschätzen und zu bescheinigen, das ist für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland kommen, aber auch für Deutsche selbst von Vorteil. Das hat auch Deutschland in Zeiten des Fachkräftemangels inzwischen verstanden.
"Die Anerkennung von Kompetenzen ist für alle Seiten ein Gewinn", sagt Romin Khan, Referent für Migrationspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung. "Hier hat ein gewisses Umdenken in Deutschland stattgefunden, und das unterstützt ver.di, etwa durch Qualifizierungsberatung", so Khan. In Deutschland herrsche ein Fachkräftemangel, durch die Anerkennung von Kompetenzen komme es zu einer Fachkräftesicherung und -gewinnung. Zusätzlich habe die Anerkennung ihrer Kompetenzen für Menschen wie Naseri, die neu nach Deutschland kämen, eine persönliche Komponente, sagt Khan. "Es findet dadurch keine Entwertung der Biografien statt, sie fühlen sich auch gesellschaftlich akzeptiert."
Dann eben selbst
Um möglichst vielen Menschen Zugang zur beruflichen Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen, unbescheinigte Kompetenzen zu prüfen und zu dokumentieren, hat sich insbesondere das Projekt ValiKom etabliert und zahlreichen Menschen den Berufseinstieg in Deutschland ermöglicht.
Dennoch war der Einstieg "hart" für Naseri. "Ich hatte zu der Zeit nicht viel Geld, doch wir mussten unser Werkzeug, also die Scheren und auch Farben etc. selbst mitbringen", erinnert sie sich. Die Kirchengemeinde hilft ihr schließlich. 2019 bekommt sie ihr Friseurinnen-Zertifikat. Eine Weiterbildung wird dennoch von ihr verlangt, denn im Iran durfte sie nur Frauenhaare schneiden, Männerhaarschnitte soll sie jetzt lernen.
Naseri hat in zwei Schulen angefragt. "Dort wurde mir gesagt, ich müsse die komplette Ausbildung absolvieren, aber das ist so viel Zeit, die mir verloren geht, denn ich kann ja sonst alles", sagt sie. Jetzt will Naseri selbst einen Kosmetiksalon eröffnen, dann eben ohne Haareschneiden. Denn das ist ihr mit der Validierung erlaubt. "Wenn mich keiner will, dann mach ich es eben selbst", sagt sie und lacht.
Lang ersehnt
Balasubramaniam Asokan hat auf die Anerkennung seiner Kompetenzen sehr lange warten müssen. Der heute 63-Jährige kam 1984 aus Sri Lanka nach Deutschland. In seiner Heimat arbeitete er als Elektroniker, doch sein Zertifikat wurde in Deutschland nicht anerkannt. "Ich ging damals zu zahlreichen Vorstellungsgesprächen, doch ohne einen deutschen Nachweis hatte ich keine Chance", sagt Asokan. Jahrelang arbeitete er zwar im Elektrobereich, mal im Büro, mal führte er Qualitätsprüfungen durch, er stellte neue Mitarbeiter mit ein und auch als Teamleiter war er tätig. Nur seinen eigentlichen Beruf durfte er nicht ausüben. Dann erfuhr auch er von dem Projekt zur Validierung, der Bewertung non-formal und informell erworbener Kompetenzen, kurz: ValiKom.
"Für unsere Gesellschaft ist es von Vorteil, wenn alle aus ihren Kompetenzen schöpfen können. Dann sind wir als Gesamtes besser."
Alexandra Condrads, DGB-Bildungswerk
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt, hat ein standardisiertes Verfahren entwickelt, mit dem Berufskompetenzen, die außerhalb des formalen Berufsbildungssystems erworben wurden, in Bezug auf einen anerkannten Berufsabschluss bewertet und zertifiziert werden können. Asokan meldete sich an, die Prüfung zu bestehen war für ihn ein Leichtes. Im vergangenen Jahr bekam Asokan über die ValiKom sein Zertifikat und nach über 30 Jahren kann er endlich wieder seinen gelernten Beruf ausüben.
"Der Deutsche Gewerkschaftsbund ist sehr stark auf politischer Ebene aktiv, dass diese Verfahren auf der einen Seite qualitativ hochwertig sind und die gute Qualität unserer Aus- und Weiterbildung sichern, auf der anderen Seite aber auch zulassen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen ihre Fähigkeiten leichter und besser nachweisen können", sagt Daniel Weber, Leiter des Bereichs Migration & Gleichberechtigung im DGB-Bildungswerk. "Viele haben in verschiedensten Kontexten gelernt, gearbeitet und so Kompetenzen erworben, die eventuell nicht mit Zeugnissen oder staatlichen Diplomen, aber mit informell dokumentierten Bescheinigungen nachzuweisen sind. Das DGB-Bildungswerk informiert in Beratungsprojekten, wie man das unterstützen kann – das ist unser Fokus", so Weber.
Durch die Zertifizierung seiner Kompetenzen hat Asokan endlich auch eine langersehnte Festanstellung in seinem erlernten Beruf bekommen. Er ist hochmotiviert: "Jetzt lasse ich mich parallel zu meiner Anstellung noch zum Elektromeister ausbilden – das hat mit dem Alter ja nichts zu tun, sondern mit Interesse", sagt er.
Auf Umwegen zum Ziel
"Mein Werdegang ist ein bisschen abenteuerlich", sagt Oliver Köntges. Er habe es nach der Schule mit zwei Studiengängen versucht. Das habe aber absolut nicht funktioniert, weil er dafür einfach nicht gemacht sei, so der 30-Jährige. "Bis man sich das selber dann auch mal eingestanden hat, kann leider ein bisschen Zeit ins Land ziehen", sagt Köntges. Aber zum Glück habe er nebenbei immer gearbeitet, im Malerbetrieb seines Vaters. "Da habe ich über die Jahre eigentlich alles gelernt", sagt er. Bereits als Schüler habe er mitgeholfen und auch während des Studiums weiter im väterlichen Betrieb mitgearbeitet. "So kam mir der Gedanke, einfach hauptberuflich Maler zu werden", sagt er.
Um sich jedoch zur externen Gesellenprüfung anmelden zu dürfen, braucht man mindestens fünf Jahre Berufserfahrung. Zwar hatte Köntges viel mehr Jahre professionell im väterlichen Betrieb gearbeitet, gesetzlich werden aber nur Festanstellungen akzeptiert. Deshalb meldete er sich zur Überprüfung seiner Fähigkeiten bei der ValiKom an. "So konnte ich meine Kompetenzen dokumentieren lassen. Ein tolles Angebot!", sagt Köntges. In einem Fachgespräch musste er seine theoretischen Kenntnisse unter Beweis stellen, dann folgte eine zweitägige praktische Prüfung. Da er den Betrieb seines Vaters eines Tages übernehmen möchte, ist der Meistertitel für ihn ein Muss und die Gesellenprüfung dafür die Voraussetzung. Jetzt steht dem Meister nichts mehr im Wege.
Nicht alle sind so stark wie Afshin Naseri, Balasubramaniam Asokan oder Oliver Köntges. Die Nichtanerkennung von Kompetenzen treibt viele Menschen in die Schwarzarbeit", weiß Alexandra Condrads, Projektleiterin "KompAKT – Kompetenzen bei Ausbilder_innen stärken, Aktiv Vielfalt Gestalten" im DGB-Bildungswerk. Viele können es sich nicht leisten, erst einmal eine Ausbildung zu machen, um ein Zertifikat zu erlangen. Sie müssen Geld verdienen und ihre Familien versorgen. "Oft landen die Menschen dann leicht in prekären Beschäftigungsverhältnissen und werden ausgenutzt", sagt Conrads. Auf der einen Seite wird Deutschland dadurch für Fachkräfte aus dem Ausland unattraktiv, auf der anderen Seite werden die Chancen, ihre Kompetenzen einzubringen für diejenigen, die aus politischen Gründen hier sind, ausgebremst.
Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch rein wirtschaftlich gesehen, ist das Anerkennen von Kompetenzen eindeutig ein Vorteil: Je mehr Kompetenzen mitgedacht werden, umso effektiver und produktiver ist man als Betrieb. "Aber auch für unsere Gesellschaft ist es von Vorteil, wenn alle aus ihren Kompetenzen schöpfen können. Dann sind wir als Gesamtes besser", findet Conrads.
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