Ausgabe 03/2023
"Eine Infusion nehmen wir noch"
"6 Tage Rennen – schnell sein lohnt sich" – die gelben Schilder mit schwarzer Schrift, die am Dienstag nach Ostern in der Braunschweiger Karstadt-Filiale in kurzen Abständen von der Decke hängen, wirken an diesem verregneten Apriltag fehl am Platz. Oben in den Räumen des Betriebsrats tagt gerade der Betriebsausschuss. Wie schon in der Woche zuvor und in der Woche davor – seit Wochen schon treibt die Mitglieder des Betriebsrats nichts anderes um als die angekündigte Schließung ihres Hauses. Seit der Insolvenzverwalter von Galeria Karstadt Kaufhof, Arndt Geiwitz, Mitte März die Liste mit den Häusern veröffentlichte, die schließen müssen, zählt Karstadt in Braunschweig dazu. Die Kundenaktion, die heute begonnen hat, scheint der Beginn vom endgültigen Ausverkauf. Für die Beschäftigten hat das Rennen um ihre Arbeitsplätze längst begonnen.
Unten im Erdgeschoss schaut sich eine junge Frau Portemonnaies an. Sie sagt, sie lebe eigentlich nahe der österreichischen Grenze und für sie wäre München die nächste große Stadt zum Shoppen. "Aber München ist mir zu groß." Und nicht alles wolle sie online bestellen. "Es gibt Dinge, die bestellt man nicht. Wenn ich meine Eltern in Lengede besuche, fahre ich mit meiner Mutter nach Braunschweig, um einzukaufen." Die kommt dazu und sagt: "Hier bei Karstadt bekommen wir alles. Mein Mann hat hier noch jede Hose gekauft." Und mit einem Blick zu ihrer Tochter sagt sie: "Wir sind dafür, dass Karstadt bleibt. Können wir dafür irgendwo unterschreiben?"
700 Unterschriften in zwei Stunden
Unterschriften haben die Beschäftigten bereits Tausende gesammelt. Nur wenige Tage nach Bekanntgabe der Schließungsliste haben sie vor dem Haupteingang in der engen Schuhstraße ihre Kundinnen und Kunden für den Erhalt ihrer Filiale unterschreiben lassen. Innerhalb von zwei Stunden hatten schon 700 unterzeichnet, nach drei Tagen hatten sie 4.000 Unterschriften. Der NDR berichtete im Lokalfernsehen über ihre Aktion, der Oberbürgermeister der Stadt solidarisierte sich mit ihnen und richtete eine Task Force ein zur Rettung der Innenstadt. Nur wenige Meter entfernt vom Karstadt-Haus steht in der Poststraße schon seit Mitte September 2021 die ehemalige Karstadt-Filiale am Gewandhaus leer.
"Die Beschäftigten wissen am besten, was sich verkauft, aber man lässt sie nicht mitentscheiden" Marc Jäger, ver.di-Sekretär
Im Betriebsratsbüro hängen noch die Schilder von der Unterschriften-Aktion: "Seit 133 Jahren Tradition in Braunschweig" und "Dieses Haus ist mehr. Es ist eine Familie". Ein Großteil der Beschäftigten ist bereits seit drei Jahrzehnten dabei. Gaby Hanne, 60 Jahre alt, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende und mit Beginn ihrer Ausbildung seit 1978 hier bei Karstadt beschäftigt, sagt: "Ich stehe den ganzen Tag an der Kasse und werde angesprochen. Die Kunden nehmen sehr Anteil."
Es ist 14 Uhr und der Betriebsausschuss tagt heute in sehr kleiner Runde. Petra Lampe, ebenfalls 60 und gelernte Schaufenstergestalterin, ist Schriftführerin im Betriebsrat. Sie legt ihre dicke schwarze Kladde auf den runden Tisch und setzt in der kleinen Teeküche Kaffee auf, holt Tassen und Milch nach vorne und noch Kekse und Weingummis hervor. Mit am runden Tisch sitzen Thomas Bröhl, 57, Verkäufer, und Marc Jäger, 35, ihr ver.di-Sekretär. "Wir sind total begeistert, dass Marc uns betreut", sagt Petra Lampe. "Er ist jederzeit bereit zu kommen, etwas zu tun, jung und engagiert, er reißt uns richtig mit."
Bis heute ist ihr und den anderen nicht klar, warum sie überhaupt auf die Schließungsliste gekommen sind. Ihr Haus schreibt Gewinne und war längst für eine Sanierung vorgesehen. Die Finanzierung der nötigen Maßnahmen war gesichert, im Mai 2022 sollte der Umbau bei laufendem Betrieb beginnen, die Neueröffnung war für den 3. November 2022 vorgesehen. Und dann? Passierte nichts. Stattdessen kommt im März 2023 die Ankündigung der Schließung zum 31. Januar 2024. Niemand von ihnen hatte damit gerechnet.
Die große Telefonkonferenz
Gaby erinnert sich noch an die große Telefonkonferenz mit den betroffenen Filialen. Chaotisch sei die anfänglich gewesen, erzählt sie und ist ganz aufgeregt. Als Braunschweig unter den Schließfilialen aufgeführt wurde, habe sich das angefühlt, "als wenn mir einer eine Schaufel auf den Kopf haut". Anschließend wurde die Filiale geschlossen und es den Kolleginnen und Kollegen in einer Betriebsversammlung mitgeteilt. "Gaby, ich habe dein Gesicht gesehen, da wusste ich, was uns blüht", sagt Petra Lampe.
Der Galeria-Gesamtbetriebsrat gab ihnen mit auf den Weg: "Macht was, klemmt euch dahinter, wehrt euch." "Und dann kam Marc", sagt Petra Lampe. Ohne ihn hätten sie die Aktion mit Presse und Oberbürgermeister und allem Drum und Dran nicht so professionell zustande gebracht, sagen alle.
Bestseller bleiben im Keller
Marc Jäger kennt das Karstadt-Haus seit seiner Kindheit. An der Spielzeugabteilung sind seine Eltern nicht mit ihm vorbeigekommen, ohne anzuhalten. Heute kommt er ins Haus, um Socken oder andere Basics zu besorgen. Und natürlich regelmäßig zum Betriebsrat. Er ist erst seit Dezember 2022 für den Handel bei ver.di in Südost-Niedersachsen zuständig, hat zuvor die Berufsschule für Handel besucht, später sein Abitur gemacht und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Arbeitssoziologie studiert. Doch die ganze Theorie hat ihm nicht den Blick für das Offensichtliche versperrt.
Als er zur Faschingszeit in den Filialen in Göttingen und Braunschweig vorbeischaut, klagen die Braunschweiger Kolleg*innen darüber, dass sie die Karnevalskostüme nicht aus dem Keller holen dürfen. "Dabei ist Braunschweig die Faschingshochburg in Norddeutschland", sagt Marc Jäger. Wer in der teils kopfsteingepflasterten Innenstadt auf den Boden blickt, findet dort immer wieder die rote Narrenkappe des Till Eulenspiegels verewigt, im Bäckerklint soll er einst gelebt haben. "In Göttingen hingegen, dass zur Hälfte aus Studenten besteht und nichts mit Fasching am Hut hat, sollten sie die Faschingsware unters Volk bringen." In Göttingen machten sie keinen Umsatz, in Braunschweig konnten sie keinen machen. "Die Beschäftigten wissen am besten, was sich verkauft, aber man lässt sie nicht mitentscheiden", sagt Jäger.
In der Süßwarenabteilung stöbert eine Kundin um die 50 durch die runtergesetzten Osterschokoladen. Sie ist wie fast jede Woche aus Salzgitter-Lebenstedt zum Einkaufen nach Braunschweig gekommen. In "Lebenstedt sind die Bürgersteige schon lange auch tagsüber hochgeklappt, dort kann man nicht mehr einkaufen", sagt sie. Mit dem Auto sei sie in 20 Minuten hier, sie würde den Karstadt sehr vermissen, sollte er schließen.
Einige Meter weiter in der Haushaltswarenabteilung sagt ein Verkäufer, dass er frustriert und verärgert über die Geschäftsführung sei. "Nach der Schließungsankündigung stand es 0:1, jetzt steht es 1:1, denn wir verhandeln ja noch", sagt er. Aber sollten sie offenbleiben, wäre es dennoch "ein schmutziger Sieg", weil es am Ende wieder Entlassungen geben werde.
Die gute Nachricht
Draußen ist das Wetter nass und kalt, um 16 Uhr geht ein heftiges Gewitter über das Karstadt-Haus nieder. Die drei Betriebsräte blicken zum Fenster als wäre es ein Zeichen des Niedergangs. Thomas Bröhl sagt: "Viele Kollegen sind schon auf der Suche nach neuen Jobs, einige haben auch schon etwas Neues."
Vielleicht überlegen die es sich ja noch einmal anders. Zwei Wochen später, am 25. April hat die Ungewissheit ein Ende. Am späten Nachmittag, als sich an diesem weiteren kühlen und nassen Tag für eine Weile die Sonne zeigt, kommt die Nachricht: Der Warenhauskonzern und die Volksbank eG Braunschweig Wolfsburg haben sich auf "ein tragfähiges Konzept zur langfristigen Entwicklung der Innenstadt-Filiale in der Schuhstraße verständigt". "Die Voraussetzungen für einen spürbar besseren Galeria Karstadt Kaufhof sind geschaffen – und das im Sinne der Menschen in unserer Region", verkündet der Vorstandsvorsitzende der Volksbank in einer Mitteilung. Die Bank ist die Vermieterin der Karstadt-Filiale.
Gerade heute sollten die schriftlichen Kündigungen an die Beschäftigten rausgehen. Gaby Hanne sagt: "Die Ängste waren schon recht groß und keiner wusste, was auf einen zukommt. Wir sind unheimlich erleichtert." Petra Lampe ist voll des Dankes: "Ein großes Dankeschön an alle Beteiligten, die Volksbank, die Stadt, den Oberbürgermeister, ver.di und alle, die mitgeholfen haben." Aber sie weiß, dass es auch wieder anders kommen kann. "Galeria ist seit 2009 ein Unternehmen am Tropf", sagt sie und streckt ihre Armbeuge vor: "Eine Infusion nehmen wir noch."
"Ich gebe Galeria nicht auf"
Interview mit Katharina Lorenz, 49, Betriebsratsvorsitzende bei Galeria Langwasser in Nürnberg. Vor 31 Jahren begann sie bei Karstadt mit ihrer Ausbildung. Heute setzt sie alles an den Erhalt der Arbeitsplätze und den Verbleib des Kaufhauses bei Galeria
Der Insolvenzplan und die Tarifverhandlungen
Am 27. April hat das Amtsgericht Essen den Galeria-Insolvenzplan abgesegnet. Am selben Tag gingen die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des Warenhauskonzerns begleitet von Aktionen weiter. ver.di fordert nach dem jahrelangen Verzicht der Beschäftigten, den sie zur Rettung des Unternehmens geleistet haben, die Rückkehr Galerias in den Flächentarifvertrag für den Einzelhandel. Auf bis zu 5.500 Euro verzichten die einzelnen Beschäftigten aktuell jedes Jahr.
Der Insolvenzplan sieht hingegen einen weiteren Sanierungstarifvertrag mit Abstrichen für die Beschäftigten vor. ver.di kämpft weiterhin mit den Beschäftigten für gute, tariflich abgesicherte Bedingungen und um jeden Arbeitsplatz. Im Zuge des Insolvenzverfahrens sollten ursprünglich 52 Filialen geschlossen werden. Laut Insolvenzverwalter Arndt Geiwitz konnten davon bislang einschließlich der Braunschweiger Filiale sechs Häuser gerettet werden, weitere vier Häuser will das Modehaus aachener übernehmen. In diesen Fällen setzt sich ver.di für einen Betriebsübergang ein, der den Beschäftigten vorerst ein Jahr lang ihre jetzigen Arbeitsbedingungen zusichert.