Vera_Grandke_Erwin_Bender.jpg
Vera Grandke und Erwin BenderFoto: Christian Jungeblodt

Seniorenmitwirkungsgesetze in verschiedenen deutschen Städten ermöglichen es Menschen ab 60 bzw. 65 Jahren eine Seniorenvertretung in ihrer Stadt zu wählen. In Berlin besteht ein solches Gremium aus 17 Vertreter*innen pro Bezirk, die sich für ein selbstbestimmtes Leben im Alter engagieren. 38 der Berliner Bezirkssenior*innen sind ver.di-Mitglieder. Einmal im Quartal treffen sie sich bei ver.di, um sich über Themen und Probleme in den Berliner Bezirken auszutauschen. Vera Grandke (77) ist eine von ihnen. Vor der Rente war sie Sozialarbeiterin im Öffentlichen Dienst und viele Jahre freigestellte Personalrätin. Sie ist seit 1978 ver.di-Mitglied (ehemals ÖTV) und seit 2017 in der Seniorenvertretung Tempelhof-Schöneberg. Erwin Bender (73) ist seit 2017 Vorsitzender der Bezirksseniorenvertretung Neukölln und Vorsitzender der Landesseniorenvertretung. Vor der Rente war er im Baustoffgroßhandel tätig, 1977 Gründungsmitglied des Betriebsrates und seitdem ver.di-Mitglied (vorher HBV).

VER.DI PUBLIK: Wie kamt ihr zur Seniorenvertretung?

Erwin Bender: Ich kann nicht Nein sagen. Als damals bei uns im Betrieb Leute für den Betriebsrat gesucht wurden, habe ich mich gemeldet. Und als mir ver.di nach dem Eintritt in die Rente gesagt hat, da finden gerade Wahlen zur Seniorenvertretung statt, da wärst du der richtige Typ für, habe ich mich zur Wahl gestellt.

Vera Grandke: Kurz bevor ich in die Rente ging, nahm ich an einer Fortbildung von ver.di zum Thema "Älter werden, was nun?" teil. Wir wurden auf das Seniorenmitwirkungsgesetz aufmerksam gemacht und dass es wichtig ist, dass viele ver.di-Mitglieder in den Seniorenvertretungen dabei sind. Das Wissen um die Situation vieler alter Menschen hat mich dazu bewogen, mitzumachen und auch im höheren Alter etwas bewegen zu können.

Wofür setzt ihr euch ein?

Vera: Alte Menschen existieren nicht für die Gesellschaft – in Bezug auf Informationen, insbesondere wenn es um Entscheidungen geht. Ich wünsche mir einen gleichberechtigten Umgang mit uns – sowohl in der Gesellschaft als auch in der Bezirks- und Landespolitik, sodass wir mit all unseren Vorzügen, die wir aufgrund unserer Lebens- und Berufserfahrung haben, wahrgenommen und wertgeschätzt werden.

Erwin: Die alten Leute, die in Berlin leben, haben das Recht hier in Würde alt zu werden. Sie sollen teilnehmen können, und Teilhabe heißt auch mobil sein. Dazu gehört, sich im öffentlichen Raum sicher bewegen zu können, das heißt beleuchtete Straßen, keine Stolperfallen, abgesenkte Bürgersteige, Aufzüge zur U-Bahn und mehr. Sich das Ticket leisten zu können. Und neben digital auch analog unterwegs sein zu können.

Ist digitale Teilhabe ein großes Thema?

Erwin: Ein Riesenthema. Es geht um Besitz und Wissen. Du musst das Equipment besitzen, es dir leisten können, einen PC, einen Drucker, ein Smartphone zu haben – und du musst wissen, wie du damit umgehst. Beides ist bei älteren Menschen oft nicht gegeben.

Vera: Es gibt natürlich auch ältere Menschen, die sich gut auskennen, aber ein Großteil eben nicht. Viele haben kein Handy. Aber ohne Handy und digitalen Umgang ist man an vielen Punkten völlig abgeschnitten.

Erwin: Zu uns kam mal eine Bürgerin in die Beratung, die war völlig verzweifelt, weil ihre Bankfiliale geschlossen hatte und sie ihre Überweisung nicht machen konnte, aber ihren Stromanbieter bezahlen musste. Ich bin mit ihr zu verschiedenen Banken gegangen, keine wollte ihre Überweisung per Bareinzahlung annehmen. Am Ende haben wir es in einer Postbank geschafft – sie musste 15 Euro Gebühr dafür zahlen. Das ist doch irre.

Was sind die größten Probleme für Ältere?

Vera: Armut ist ein gravierendes Problem. Ein großer Teil der alten Menschen bekommt Grundsicherung. Damit kommt man kaum über die Runden. Einsamkeit ist ein weiteres, massives Problem, insbesondere nach Corona. Nach drei Jahren sozialer Abstinenz sind viele Kontakte abgebrochen.

Erwin: Bei unseren Beratungen in den Freizeitstätten sind Armut und Wohnen im Alter oft Thema, aber auch praktische Sachen wie: Ich komme mit meinem Rentenbescheid nicht klar. Wie komme ich aus meinem Vertrag raus? Auch Trickbetrug ist ein häufiges Thema.

Was habt ihr schon erreicht?

Erwin: Die Älteren sind etwas sichtbarer geworden sind. Wir kämpfen aber an vielen Fronten. Auf der einen Seite mit den Bezirksämtern um die vielen kleinen Dinge wie besagte Stolperfallen, abgesenkte Bürgersteige und ähnliches. Und auf der anderen Seite auf Landesebene mit dem Senat. Es frustriert, dass man oft auf der Stelle tritt. Die Berliner Bevölkerung ist zu 25 Prozent 60 Jahre und älter, mit zunehmender Tendenz. An diese Menschen muss die Politik denken, sie sehen und respektieren.

Vera: In unserem Bezirk haben wir in Sachen Verkehrssicherheit auch Vieles umgesetzt. Im Moment engagieren wir uns für die "nette Toilette".

Die "nette Toilette"?

Vera: Es gibt viele ältere Leute, die nicht aus dem Haus gehen, weil sie nicht wissen, wo sie auf Toilette gehen können. Es gibt nur wenige öffentliche Toiletten, noch weniger kostenlose. Die 50 Cent für einen Toilettengang sind aber für ärmere Leute zu viel. Die Idee der "netten Toilette": Alle Cafés und Restaurants, die mitmachen, haben ein Schild an ihrer Tür "Nette Toilette". Da kann man rein und ohne Diskussion und Geld auf die Toilette gehen. Im Gegenzug dazu stellt die lokale Verwaltung einen bestimmten monatlichen Betrag für Reinigung und Instandhaltung dieser Toiletten zur Verfügung. Das wäre der Deal. In England gibt es das häufig, in Westdeutschland auch schon und im Berliner Umland vereinzelt. Wir wollen, dass in unserem Bezirk ein Probelauf gemacht wird.

Und was passiert auf Landesebene?

Erwin: Mit der Senatsverwaltung sind wir dabei, das Altenhilfestrukturgesetz zu überarbeiten. Überschrift: Menschen sollen in Berlin in Würde alt werden können. Dann wird gerade das Seniorenmitwirkungsgesetz selbst überarbeitet, an der Novellierung sitzen wir mit dran. Das dritte sind die Leitlinien der Berliner Seniorenpolitik.

Wir haben mit der Senatsverwaltung vor zwei Jahren daran gearbeitet, dass 17 Leitlinien in vier zusammengefasst wurden. Diese vier Leitlinien – Förderung der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe, Förderung der gleichberechtigten und vielfältigen Teilhabe, Schaffung der räumlichen Bedingung für Teilhabe, Schaffung der gesundheitlichen und pflegerischen Bedingungen für Teilhabe – wurden mit 65 Maßnahmen versehen, die ganz konkret sagen, wer was bis wann machen muss. Da überprüfen wir momentan, was funktioniert hat und was nicht. Beim Thema Digitalisierung gibt es schon über 40 Punkte, wo nachgearbeitet werden muss. Und da sowas immer mit Kosten verbunden ist, rennen wir da bei der Senatsverwaltung nicht immer offene Türen ein.

Interview: Fanny Schmolke