Inmitten blutiger Konflikte leben Juden und Araber in einem Dorf gleichberechtigt zusammen. Erwachsene und Kinder lernen, mit verschiedenen Perspektiven umzugehen

Im Eingang hängen die Hoffnungen zweier Völker: Die Kinder haben Friedenstauben mit palästinensischen und israelischen Fahnen gemalt. Ein Bild zeigt ein Männchen mit dem blauen Davidstern auf seinem Umhang und der schwarz-weiß-grün-roten Flagge der Palästinenser im Kopf. Im Zimmer der dritten Klasse erklären bunte Kinderzeichnungen das arabische und das hebräische Alphabet. Zwei Lehrer unterrichten gemeinsam - einer in arabischer, der andere in hebräischer Sprache. Schon im Kindergarten wachsen die Kleinen zweisprachig auf.

Im Kindergarten und in der Schule wird arabisch und hebräisch gesprochen FOTOS: FISHMANN / ECOMEDIA

Streit gibt es nicht mehr als in jedem anderen Dorf

"Hier ist es egal, ob Du Jude oder Araber bist", erzählt die 15jährige Mai Shbeta. "Wirklich, ich habe jüdische und arabische Freunde, wir feiern die christlichen, jüdischen und muslimischen Feste." Die groß gewachsene Mai mit den langen schwarzen Haaren ist so etwas wie ein Mensch gewordener Traum des Nahen Ostens. Ihr Vater ist Araber, ihre Mutter Jüdin. Die Familie wohnt in Newe Shalom oder Wahat al Salam, wie die "Friedensoase" zwischen Tel Aviv und Jerusalem auf Arabisch heißt: 54 Familien - Juden und Araber, Christen wie Moslems - leben hier gleichberechtigt miteinander. Streit gibt es nicht mehr als in jedem anderen Dorf.

Großzügig gebaute weiße Häuser sprenkeln den Berg über dem Kloster Latrun. In den üppig-grünen Gärten gedeihen Kaktusfeigen, Mimosen und Bananen, am Horizont über dem weiten Tal sieht man an klaren Tagen das Meer schimmern. Im Friedensdorf wohnen vor allem Intellektuelle: Ärzte, Rechtsanwälte, Manager, Pädagogen, Professoren oder Psychiater wie Mais Mutter Evi Guggenheim.

"Als wir gekommen sind, gab es hier nichts. Nur Dornen und Steine", erinnert sich die Schweizer Jüdin an ihren ersten Besuch in Newe Shalom vor 30 Jahren. Das Wasser mussten die Gründer der ersten jüdisch-arabischen Gemeinschaftssiedlung zu Fuß oder mit einem Esel vom Kloster Latrun den Berg hinauf schleppen. "Damals kamen die Leute aus Idealismus", sagt Evi Guggenheim, die hier ihren späteren Mann kennengelernt hat - und blieb. Ihre jüdische Familie in Zürich war wenig begeistert, als sie, damals Anfang 20, ausgerechnet einen Araber heiratete.

Der 15. Mai ist auch in der "Oase des Friedens" ein besonderer Tag. Im ganzen Land feiern die Israelis ihn als Tag der Unabhängigkeit, für die Araber ist er der Tag der "Katastrophe" und sie betrauern den Verlust ihrer Heimat. Ein Datum, zwei Geschichten und viele Wahrheiten. Die Palästinenserin Rahida lehrt jüdischen und arabischen Kindern in Newe Shalom beide Sichtweisen. Weil die israelischen Schulbücher die Geschichte aus der jüdischen Perspektive darstellen und die palästinensischen Flüchtlingslager nicht erwähnen, arbeitet die Schule von Newe Shalom auch mit eigenen Heften. Bis in die 90er Jahre war die palästinensische Flagge in Israel verboten. Um die Zulassung ihrer Schule nicht zu verlieren, ließen die Lehrer deshalb in der Geschichtsstunde anfangs den Platz für die palästinensische Fahne neben der israelischen frei. Später haben die Kinder den 15. Mai selbst dann gestaltet - "ganz ohne Fahnen", wie der ehemalige Bürgermeister, Abdessalam Najjar, ergänzt. "Wir Erwachsenen haben dabei viel gelernt."

Sonne über Palästinas und Israels Fahnen

Es geht darum, sich selbst und andere wahrzunehmen

Zehn Prozent der 300 Kinder, die die Grund- und Mittelschule der Friedensoase besuchen, wohnen in Newe Shalom. Die anderen kommen aus den Dörfern in der Umgebung. Weil die arabischen Schulen in Israel schlechter ausgestattet sind als die jüdischen und die Kinder nur mit gutem Hebräisch eine Chance auf sozialen Aufstieg haben, melden vor allem arabische Eltern ihre Kinder gern in Newe Shalom an.

"Die Friedensoase versteht sich als "Gemeinschaft der Gleichheit in einer ungleichen Umgebung." In den Seminaren der Friedensschule lernen junge Juden und Araber aus ganz Israel und den palästinensischen Gebieten, genauer hinzusehen. In den Workshops und Seminaren entdecken sie die eigenen Vorurteile und die Wege, gewaltfrei damit umzugehen.

"Vielleicht habe ich auch 20 Prozent islamischen Dschihad in mir", überlegt Abdessalam Najjar, "aber zu 80 Prozent bin ich ein friedlicher Mensch, und das stelle ich in meinen Mittelpunkt." In Newe Shalom gehe es nicht darum, politische Lösungen vorzuschlagen, sondern die Wahrnehmung für sich selbst und andere zu schärfen.

"Wir reden hier möglichst nicht über Recht oder Unrecht, sondern über unsere Interessen und Bedürfnisse", sagt Najjar. Juden und Araber unterscheiden sich dann kaum noch voneinander. Sie wünschen sich Wohlstand, Frieden, Arbeit, Gesundheit oder die Versorgung mit Wasser. "Dann überlegen wir, wie wir diese Bedürfnisse für uns alle am besten befriedigen können."