Prof. Dr. Hans Döbert vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Berlin: "Notwendig ist, die jungen Leute dauerhaft, konsequent, systematisch und sehr differenziert zu fördern und zu unterstützen."

ver.di PUBLIK | Deutschland gibt im Vergleich zu anderen Industrieländern weniger Geld für Bildung aus. Ist das Geld das Hauptproblem des deutschen Bildungssystems?

Hans Döbert | Geld ist nicht das Hauptproblem, spielt aber gleichwohl natürlich eine große Rolle. Viel wäre schon gewonnen, wenn man das Geld, das heute im Schulsystem ausgegeben wird, dort halten würde. Gegenwärtig sinken ja die Schülerzahlen: Wenn weiter die gleiche Summe wie bisher zur Verfügung stünde, könnte man mindestens 100 bis 200 Lehrerinnen und Lehrer in jedem Bundesland zusätzlich einstellen. Die neuen Kapazitäten müssten vor allem den schwächsten 20 Prozent der Schüler zugute kommen; sie sind das Hauptklientel, um das man sich intensiver kümmern muss.

ver.di PUBLIK | Was ist denn dann das zentrale Problem des deutschen Bildungswesens?

Döbert | Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Unterricht völlig anders organisieren. Er muss das selbstständige, schöpferische Lernen fördern und nicht das Auswendiglernen. Dann ist es notwendig, ein besseres Berufsausbildungsystem hinzubekommen; heute landen ja viele Jugendliche in einem Übergangssystem, wo sie zwei bis drei Jahre ohne Perspektive auf einen Ausbildungsplatz gehalten werden. Und wir müssen es schaffen, dass mehr Abiturienten tatsächlich studieren. Viele von ihnen nehmen eine berufliche Ausbildung auf, so dass Jugendliche mit niedrigerem Abschluss weniger Chancen haben - und das setzt sich fort bis zu den jährlich acht bis neun Prozent Jugendlichen, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Neben den damit verbundenen individuellen Schicksalen ist das auch eine enorme Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen.

ver.di PUBLIK | Wer trägt die Hauptverantwortung dafür, dass 20 Prozent der Kinder in Deutschland abgehängt werden?

Döbert | Die Verantwortung dafür trägt maßgeblich die Bildungspolitik. Notwendig ist es, insbesondere die Schulen personell besser auszustatten, in die relativ viele Kinder mit Risikolagen, also mit einem schwachen Bildungshintergrund gehen. Solche Kinder und ihre Familien brauchen Unterstützung - nicht finanziell, sondern vor allem inhaltlich. Die Kinder sollten zum Beispiel auch in den Ferien Möglichkeiten des unterstützenden Lernens bekommen.

ver.di PUBLIK | Solche Programme gibt es ja schon.

Döbert | Ja, aber so etwas muss systematisch passieren. Es nützt nichts, mal hier und da ein Programm aufzulegen, das dann wieder nach ein oder zwei Jahren endet, so wie es üblicherweise geschieht. Notwendig ist, die jungen Leute dauerhaft, konsequent, systematisch und sehr differenziert zu fördern und zu unterstützen. Das ist auch wirtschaftlich notwendig. Zunehmend findet die Wirtschaft nicht mehr genügend ausbildungsreife und -fähige Jugendliche; in Baden Württemberg und Bayern wird inzwischen um fast jeden dieser Jugendlichen gerungen. Eine der zentralen Aufgaben der Bildungspolitik ist es, die Schulen so auszustatten, dass möglichst alle Jugendlichen anschließend ausbildungsreif sind. Es macht keinen Sinn, das Anforderungsniveau nach unten zu senken, sondern die Förderung muss verstärkt werden.

ver.di PUBLIK | Wer hat das bisher verhindert?

Döbert | Ich glaube nicht, dass das jemand aktiv verhindert hat. Es wurde nur lange nicht erkannt. Und für etwas Neues fehlte einfach das Geld. In unserem Bildungssystem geben wir im Vergleich zu anderen Ländern sehr viel Geld für die Gehälter von Lehrerinnen und Lehrern aus und wir haben eine umfangreiche, teure Verwaltung. Wenn die Effekte entsprechend positiv wären, würde man das ja einsehen. Doch gerade bei den schwächeren Schülern ist das nicht der Fall. Deshalb muss Geld künftig stärker auch für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen ausgegeben werden, die sich neben den Lehrern intensiv um einzelne Schüler kümmern und auch für ein gutes Nachmittagsprogramm - am besten innerhalb von Ganztagsschulen - sorgen.

ver.di PUBLIK | Ist nicht das dreigliedrige Schulsystem eines der Hauptübel und muss deshalb abgeschafft werden?

Döbert | Es gibt keine empirische Studie, die besagt, dass die Schulstruktur an der Misere in Deutschland Schuld ist. Ich glaube auch kaum, dass man in der Bevölkerung einen raschen Bewusstseinswandel hinsichtlich des Gymnasiums mit seiner 200-jährigen Tradition hinbekommen könnte. Eine Abschaffung der staatlichen Gymnasien würde deshalb nur dazu führen, dass es immer mehr Privatschulen gibt. Das aber ist die schlechteste aller Alternativen - denn wir brauchen ein gutes öffentliches Schulsystem.

ver.di PUBLIK | Was schlagen sie vor?

Döbert | Ich glaube, die Perspektive für die nächsten Jahre liegt in einem zweisäuligen System, bestehend aus Gymnasien und einer weiteren Schulart. Die Schulen mit den schwächeren Schülern müssen wesentlich besser ausgestattet werden und dort muss es für Spätentwickler auch die Möglichkeit geben, die Hochschulreife nachträglich zu erlangen. Aber es muss auch Chancen und Förderung für besonders begabte Schüler geben; jede Gesellschaft braucht auch Spitzenleistungen. Schluss muss dagegen sein mit einem hoch differenzierten System von vier bis fünf Schularten, wie es in einigen Ländern existiert.

ver.di PUBLIK | Was erwarten Sie vom Bildungsgipfel in Dresden?

Döbert | Die primäre Frage dort ist: Geht das Geld, das durch die demografische Entwicklung frei wird, wieder zurück in den allgemeinen Haushalt und wird zur Schuldenreduzierung verwendet oder bleibt es im Bildungssystem. Und dann geht es hoffentlich um Verbindlichkeiten bei Kernfragen der Bildungsentwicklung. Es kann nicht sein, dass hier weiterhin jedes Land seinen eigenen Weg sucht und die Kultusministerkonferenz dann mühselig und viel zu langsam Absprachen trifft.

ver.di PUBLIK | Wären bundeseinheitliche Vorgaben nicht sowieso viel sinnvoller als ein föderalistisches Bildungssystem?

Döbert | Wenn das Bildungssystem zentral organisiert ist, kann es bei Regierungswechseln radikalen Schwankungen unterworfen sein. Das haben wir aus der deutschen Vergangenheit gelernt. Ich halte den Föderalismus an dieser Stelle deshalb für unverzichtbar. Nachteilig ist er aber, wenn elementare Abstimmungen nicht mehr funktionieren. Da muss sich unbedingt was tun, und dafür bietet der Bildungsgipfel hoffentlich eine Chance. Kanada ist ein gutes Vorbild für ein sehr leistungsstarkes föderales Bildungssystem. Dort gibt es klar definierte nationale Interessen - und jede Provinz hat ihre spezifischen Aspekte.

ver.di PUBLIK | Und wie sieht es im Bereich Weiterqualifikation - Stichwort lebenslanges Lernen - in Deutschland aus?

Döbert | Da haben wir ebenfalls dringenden Handlungsbedarf. Zum einen gibt es immer weniger Tätigkeiten für gering Qualifizierte, zum zweiten wird verlangt, dass jeder bis ins hohe Lebensalter beruflich aktiv sein soll. Die Menschen müssen sich deshalb immer wieder weiterbilden. Dafür verantwortlich, dass sie qualifizierte Arbeitskräfte haben und behalten, sind in erster Linie die Unternehmen. Aber die Wirtschaft hat ihre Ausgaben für die Erwachsenenbildung in den letzten Jahren zurückgefahren statt aufgestockt.

ver.di PUBLIK | Was können und sollten Gewerkschaften in punkto Bildung tun?

Döbert | Erfreulicherweise kümmern sich die Gewerkschaften inzwischen intensiv um das Thema. Es ist wichtig, Bildung und Weiterqualifikation zum Beispiel in Tarifverträgen zu verankern. Vor allem aber sollten Gewerkschaften mit deutlichen Forderungen auftreten, was das völlig ineffektive System beim Übergang von Schule in den Beruf angeht.

Interview: Annette Jensen