Der Nachdenker

Albrecht Müller, einst enger Berater von Willy Brandt und Helmut Schmidt, ist heute ein gefragter Redner auf linken Podien und Urheber der NachDenkSeiten, einer kapitalismuskritischen Internetseite

"Man muss den Menschen zeigen, wie sie manipuliert werden."

von Andreas Molitor

"Ach, das war alles nur Probe?" Albrecht Müller schaut die beiden Interviewer irritiert an. "Jetzt hab‘ ich zehn Minuten erzählt, und Sie haben noch gar nicht aufgenommen?" Er lehnt sich im Stuhl zurück und atmet tief durch. Das Ganze also noch mal. Da soll noch mal jemand behaupten, dass Geduld nicht zu Albrecht Müllers Stärken gehört.

Die große Wohnküche ist voll mit Menschen, Kameras, Kabeln und Mikrofonstativen. Schüler des Ludwigshafener Humboldt-Gymnasiums sind ins südpfälzische Pleisweiler gekommen, um eine Ikone der SPD-Linken zu interviewen: Albrecht Müller, Architekt des legendären "Willy wählen"-Wahlkampfs von 1972, Streiter wider den neoliberalen Mainstream, Lafontaine-Freund, Ghostwriter von Karl Schiller, Chef der Planungsabteilung im Kanzleramt unter Brandt und Schmidt - alles in einer Person. Und trotz schlohweißer Haare und seiner 70 Jahre ohne jede Spur von Altersmilde.

Die Technik funktioniert nicht. Kein Tonsignal. Ein Wackelkontakt? Dem für die Aufnahme verantwortlichen Schüler tritt der Schweiß auf die Stirn. Er versucht es mit frischen Batterien, dann mit einem anderen Kabel. Müller bietet derweil Tee und Kuchen an. Endlich, nach fast einer Stunde, läuft die Aufnahme. "Herr Müller, wie beurteilen Sie die Rolle der Medien für die politische Willensbildung?" Die Antwort kommt wie in Stein gemeißelt. "Die heutige Medienwelt und ihre Macht, Meinung zu machen, erlaubt es den Herrschenden, die Leute stillzustellen. Die Menschen werden so lange belogen und verführt, bis sie nicht mehr Herr ihrer eigenen Gedanken sind."

Markante Sätze

Der Lehrer, der sich im Hintergrund hält, jubelt leise in sich hinein: "Das sind die markanten Sätze, die man im Unterricht diskutieren kann."

Albrecht Müller ist rastloser Handelsreisender in Sachen markante Sätze. Tief und zielgenau und mit Furor injiziert er seine Botschaft ins Gedächtnis seiner Zuhörer. Mal sind es eine Handvoll Gymnasiasten, mal 300 Anhänger der Linkspartei bei einer Diskussion zur Zukunft der Rente in der Braunschweiger Stadthalle. "Der Siegeszug der neoliberalen Ideologie gründet auf Lügen und Legenden." Ja, das hören sie gern. "Man muss den Menschen zeigen, wie sie manipuliert werden. Dann entwickeln sie einen Zorn und dann werden sie immun gegen diese Impulse der Manipulation." "Der hat‘s ihnen aber gegeben", sagt einer beim Gehen mit leuchtenden Augen. Ihnen, das sind die Lobbyisten der Rentenprivatisierung, Müllers derzeitige Lieblingsgegner. Bert Rürup etwa, der Wirtschaftsweise, der zuerst die Bundesregierung in Rentenfragen beriet, sich dann für die PR der Versicherungskonzerne einspannen ließ, die an der Privatisierung der Altersvorsorge verdienen, um schließlich als Chefökonom beim Finanzdienstleister AWD anzuheuern. "Ein klarer Fall politischer Korruption", ruft Müller den Braunschweigern entgegen. 300 gute Sozialisten applaudieren.

Die Gegenöffentlichkeit

Als die Nachricht über Rürups neuen Job durchsickert, setzt Müller sich noch spät abends ans Laptop. "Zerstören, um daran zu verdienen", heißt die Schlagzeile seines Beitrags für die NachDenkSeiten, das kritische Internet-Journal, das er erfunden hat und seit vier Jahren gemeinsam mit dem Juristen Wolfgang Lieb herausgibt. Rürups Jobwechsel sei einer von "vielen inzwischen gängigen Drehtüreffekten", schreibt Müller an diesem Abend, ein "Zeichen des Verrottens unserer Demokratie".

Die NachDenkSeiten sind ein Stück Gegenöffentlichkeit, Stachel im Fleisch der, so Müller, "weitgehend gleichgerichteten Medien". Spiegel, Stern, Zeit und Bild sowieso - alle marschieren im Trott der neoliberalen Propaganda. "Das ist Manipulation fast Orwell'scher Art", sagt Müller. Starke Worte. "Wenn man den Leuten oft genug sagt, dass der Oskar Lafontaine ein Demagoge ist, dann glauben sie es irgendwann." Auch der Sturz Kurt Becks von der SPD-Spitze, da ist er sicher, sei ein Werk des Kampagnenjournalismus.

Bei den Gewerkschaften stehen die NachDenkSeiten in hohem Ansehen. Umgekehrt setzt Müller auf die Gewerkschaften. "Sie sind unverzichtbar, damit sich wieder ein kritisches Bürgertum zusammenfindet. Als Einzelner hält man das doch auf Dauer nicht aus, wenn man sieht, wie man belogen und betrogen wird." Doch Enttäuschung schwingt schon mit, wenn Müller erzählt, dass er die NachDenkSeiten ursprünglich gemeinsam mit den Gewerkschaften herausgeben wollte. "Aber dann sind sie nach und nach alle abgesprungen. Es ist schon erstaunlich, wie viele angepasste Leute da sitzen." Müller hat die NachDenkSeiten zum Pranger der politischen Korruption gemacht. Immer wieder nennt er die Namen derer, die Weichen für politische Entscheidungen stellen, von denen sie anschließend selbst profitieren: Rürup und Riester (Rente), Wiesheu und Hansen (Bahn-Privatisierung), Schröder (Gazprom). "Man versteht Politik und vor allem Privatisierungsentscheidungen nur, wenn man weiß, wer daran verdient." Wieder so ein Satz für die Gymnasiasten.

Analyse als Terrain

Dagegenhalten ist seit jeher Müllers Passion. Schon als Zwölfjähriger klebte er Plakate gegen die Wiederbewaffnung. Er hatte ja noch die Bombenangriffe auf seine Heimat erlebt. "Von meinem Geburtsort Meckesheim konnte ich den roten Himmel über Heilbronn, Mannheim und Würzburg sehen", sagt er. "Das hab‘ ich heute noch vor mir.

Zurück in Müllers Wohnküche. "Ist die derzeitige Krise der Anfang vom Ende des Kapitalismus?", wollen die Schüler wissen. "So etwas halte ich für Quatsch", brummt Müller, "als Ökonom kann ich mit solchen Endzeit-Szenarien nichts anfangen." Müller ist Diplom-Volkswirt, die ökonomische Analyse sein Terrain. Er ärgert sich über wirtschaftspolitische Inkompetenz und Dampfplauderei, auch in den eigenen Reihen. "Die Politik ist doch jetzt, angesichts der Rezession, nicht machtlos." Da sieht er sich aktuell ganz auf Linie mit Nobelpreisträger Robert Merton Solow oder Jim O'Neill, Chefvolkswirt der Investmentbank Goldman Sachs. Beide haben in der Finanzkrise die Vorzüge der schon totgesagten staatlichen Konjunkturpolitik entdeckt. "Das sind Kapitalisten reinsten Wassers", sagt Müller erfreut, "offenbar haben sie jetzt erkannt, dass sie jahrzehntelang die falschen Rezepte gepredigt haben." Der Lehrer wird auch diesen Satz diskutieren lassen.

www.nachdenkseiten.de

Albrecht Müller

am 16. Mai 1938 in Meckesheim (Nordbaden) geboren. Lernt Industriekaufmann, studiert Volkswirtschaft. Mit 30 Jahren Redenschreiber von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). "Ein ständiger Kampf gegen diese konservativen Typen im Ministerium." 1970 Wechsel in die SPD-Zentrale. Leiter der Öffentlichkeitsarbeit und Manager des Bundestagswahlkampfes 1972. Von 1973 bis 1982 Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt. 1987 bis 1994 Bundestagsabgeordneter. Lebt mit seiner Frau in Pleisweiler (Südpfalz).