Mit dem Bedarf der Kinder wird Schlitten gefahren

Hessisches Landessozialgericht lässt Arbeitslosengeld-II-Regelsätze für Kinder prüfen

Eine frohe Botschaft sollte es wohl sein, was die Bundesregierung Ende November bestätigt hat: Sie will den Kinderfreibetrag, das steuerlich freizustellende Kinderexistenzminimum, ab 2009 von 5808 auf 6024 Euro pro Jahr anheben. Diese erste Erhöhung seit 2001 wurde im kürzlich vorgelegten 7. Existenzminimums-Bericht der Bundesregierung empfohlen. Am Kinderfreibetrag wiederum orientiert sich das Kindergeld. Es soll für die ersten beiden Kinder um 10 Euro auf 164 Euro monatlich, ab dem dritten Kind um 16 Euro auf 170 und ab dem vierten Kind auf 195 Euro steigen.

Familienverbände macht diese Botschaft nicht froh. Siegfried Stresing, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbandes (DFV): "Die Erhöhung des Freibetrags um gerade mal 216 Euro macht ein Plus von nicht einmal vier Prozent aus - und das nach sieben Jahren Teuerung, in denen allein die Energiekosten um 50 Prozent gestiegen sind." Für Familien, die von Arbeitslosengeld II leben, bringt die Erhöhung vom Kinderfreibetrag beziehungsweise Kindergeld nichts.

Hoffnung auf realitätsnähere Mindestbeträge kommt jetzt von anderer Seite: Der 6. Senat des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt urteilte, dass das Existenzminimum von Familien durch die Hartz-IV-Regelsätze nicht gedeckt sei. Die Regelsätze verstoßen nach Ansicht der Darmstädter Richter gegen das Grundgesetz (AZ L 6 AS 336/07). Deshalb legte der 6. Senat des Gerichts seine Entscheidung dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als so genannten Vorlagenbeschluss zur Überprüfung vor.

Geklagt hatte eine dreiköpfige Familie aus dem Werra-Meißner-Kreis, die Arbeitslosengeld II bezieht. Für die Eltern wurden im Jahr 2005 jeweils 311 Euro, für die 14-jährige Tochter 207 Euro pro Monat bewilligt. Den Antrag auf höhere Leistungen lehnte die Arge im Widerspruchsverfahren ab. Die daraufhin folgende Klage der Familie wurde vom Sozialgericht Kassel in erster Instanz abgewiesen. Die Leistungen seien nach den gesetzlich vorgegebenen Regelsätzen korrekt bemessen und daher rechtmäßig.

Das sahen die Darmstädter Richter am 6. Senat des Landessozialgerichts allerdings anders. Mehrere Gutachten zur Bedarfsbemessung legten nahe, dass insbesondere die Regelleistung für die Tochter- pauschaliert auf 60 Prozent der Leistung für Erwachsene - nicht ausreiche und nicht hinreichend begründet sei. Das Bundesverfassungsgericht, so die Richter, habe bereits 1998 den damals geltenden Steuerfreibetrag für Kinder (Kinderfreibetrag) beanstandet, weil dieser den außerschulischen Bildungsbedarf von Kindern nicht berücksichtigte.

Kritik nicht berücksichtigt

Diese Karlsruher Kritik am nicht ausreichenden Kinderexistenzminimum hat die rot-grüne Bundesregierung bei ihrer "Hartz IV"-Gesetzgebung nicht beachtet. Die pauschalen Regelsätze für Kinder im Arbeitslosengeld II verstoßen daher nach Ansicht des Landessozialgerichtes gegen mehrere verfassungsrechtliche Gebote.

Das sieht Bernhard Jirku, Bereichsleiter Erwerbslosenpolitik beim ver.di-Bundesvorstand, schon lange so: "Die ganze Konstruktion der Hartz-IV- Regelsätze liegt im Argen. Die Entscheidung der hessischen Richter zeigt nun das Ausmaß der Illegalität in der Sozialverwaltung." Jirku meint, dass der Vorlagenbeschluss "Rechtsgeschichte schreiben" könnte.

Auch Martin Künkler von der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) in Berlin ist erfreut über die Entscheidung der hessischen Sozialrichter: "Das zeigt, dass nicht alle Richter die Auffassungen des Bundessozialgerichts (BSG) teilen. Das BSG hatte in mehreren Urteilen in den vergangenen Jahren keine Bedenken gegen die niedrigen Hartz-IV-Regelsätze geäußert."

Vor übertriebenen Erwartungen auf mehr Arbeitslosengeld II oder gar Nachzahlungen warnt er aber. "Ob das Bundesverfassungsgericht im Sinne der Hartz-IV-Empfänger entscheidet und vom Gesetzgeber höhere Regelsätze für das Existenzminimum fordert, steht dahin." Er empfiehlt allen betroffenen Hartz-IV-Familien, sich auf der Internetseite des Erwerbslosenforums zu informieren. Dort werden drei mögliche Varianten eines Karlsruher Verfassungsurteils durchgespielt. Als Hilfe für ein aktives Handeln stellt die KOS Mustertexte für Widerspruch, Klage und einen Überprüfungsantrag zum Herunterladen bereit.

www.erwerbslos.de

Der Beschluss der hessischen Richter wird voraussichtlich in der 51. Kalenderwoche (ab 15. Dezember 2008) unter www.rechtsprechung.hessen.de ins Internet gestellt.