Ausgabe 03/2018
Niemand soll verlorengehen
Das Projekt "Berlin braucht dich!" bringt Jugendliche mit Migrationshintergrund in duale Ausbildung. Denn die berufliche Zukunft darf keine Frage der Herkunft sein
Links: Brice T., Auszubildende am Flughafen Berlin-Brandenburg, hat eine Frage an ihren Ausbilder Christian S. Mitte: Maria G., Auszubildende bei den Berliner Bäderbetrieben, und ihre Ausbilderin Pamela A. während einer Trockenübung Rechts: Und wie weiter jetzt? Sabine C., Leiterin Fachbereich Ausbildung, und Jony N., Auszubildender im IT-Dienstleistungszentrum Berlin
Für Hussein Fakhro begann alles fast spielerisch mit dem Ausmessen einer Wohnung. Die Gewobag, ein kommunales Berliner Wohnungsunternehmen, interessierte Schüler mit solchen Übungen für ihr Metier. Und Hussein sah sich schon zu Ausbildungsbeginn als "geborenen Immobilienkaufmann". Seit einem halben Jahr ist er das wirklich. Die Gewobag hat ihn unbefristet übernommen. Immer, wenn er auf Berufswahl und Ausbildungsweg angesprochen wird, erzählt der 20-Jährige mit libanesischen Wurzeln von "Berlin braucht dich!" Das Projekt spielte für ihn "eine sehr große Rolle".
Da ist er nicht der einzige. Für junge Leute mit ganz unterschiedlichen beruflichen Ambitionen ist ein Weg in die duale Ausbildung mit "Berlin braucht dich!" verknüpft. So heißt die integrationspolitische Leitinitiative in Berlin. Sie entstand 2006, nachdem Alarm geschlagen werden musste: Unter den Auszubildenden beim Land Berlin nahmen Jugendliche mit Migrationshintergrund damals nur einen verschwindend geringen Teil ein. Inzwischen gibt es Fatma, künftige Operationstechnische Assistentin, oder Nelly, die Kinderkrankenschwester bei Vivantes lernt. Omar ist bald fertiger Busfahrer, Fachkraft für den Fahrbetrieb bei der hauptstädtischen Verkehrsgesellschaft BVG, und Ahmet Industriemechaniker bei Siemens. Aber auch Computerfreak Yasin, der Facharbeiter für Systemintegration beim IT-Dienstleistungszentrum Berlin lernte, oder Bhoman, der seinen "Traumjob" als Theatermaler bei der Opernstiftung in Berlin fand. Sie alle stehen für die Projektidee: Jugendliche aus Familien mit Einwanderungsgeschichte in eine qualifizierte Ausbildung zu bringen. Der öffentliche Dienst des Landes Berlin, Landesbetriebe, inzwischen aber auch hauptstädtische Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie ebnen gemeinsam mit der Politik und dem 16-köpfigen Projektteam Wege in die berufliche Integration.
Praktika als Türöffner
Praktika beginnen oft schon in der 7. Klasse, wenn Teenagern Einblicke in die moderne Arbeitswelt vermittelt, Beratung und in höheren Schulklassen Möglichkeiten zur beruflichen Erprobung geboten werden. Bei Immobilienkaufmann Hussein war es so. Er hat alle vier Stufen besserer Berufsorientierung durch Praxislernen erklommen und Praktika als Türöffner zur Bewerbung genutzt. Speziell für "Berlin braucht dich!" stellen 16 hauptstädtische Betriebe pro Ausbildungsjahr etwa 50 Ausbildungsplätze bereit. Das scheint nicht viel, zieht aber Kreise. Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach, Die Linke, verweist auf die schwieriger werdende Lehrstellensituation, wo Plätze zunehmend unbesetzt bleiben. Viele Jugendliche - gerade solche mit Migrationshintergrund und womöglich Diskriminierungserfahrung - fänden "den Weg in eine Ausbildung und damit in qualifizierte Beschäftigung nicht allein". Doch müssten gerade "die großen Potenziale, die diese Jugendlichen mitbringen, besser erschlossen werden" - im allseitigen Interesse.
Deshalb arbeitet "Berlin braucht dich!" gezielt mit Partnern und einem Netz von Unterstützern zusammen, wozu auch ver.di zählt. "Chancengleichheit, die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und gleicher sozialer Chancen in Betrieb und Gesellschaft, ist Herzstück und Kernaufgabe von ver.di. In Berlin haben 27 Prozent der Einwohner/innen einen Migrationshintergrund, bei den unter 15-Jährigen sind es sogar 43 Prozent", sagt Susanne Stumpenhusen, Landesbezirksleiterin von ver.di Berlin-Brandenburg. Und: "Mit ;Berlin braucht dich' ist es gelungen, den Anteil von neueingestellten Azubis mit Migrationshintergrund innerhalb von zehn Jahren von 8,7 auf 25,1 Prozent zu steigern. In Betrieben, Politik und Verwaltung sollte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegeln, im Sinne einer offenen und toleranten Unternehmenskultur mit internationaler Orientierung."
Partnerschulen der Initiative, wie die Zuckmayer-Schule in Berlin-Neukölln, proben gemeinsam einen Perspektivwechsel in der Berufsorientierung. Die müsse von den individuellen Bedürfnissen der Schüler ausgehen und vertrauensvoll auf ihre Stärken setzen. Fachlehrer und Berufseinstiegsbegleiter müssen vor allem mehr Zeit bekommen, den Jugendlichen eine duale Ausbildung als attraktives Zukunftsbild zu vermitteln.
Die Richtigen finden
Für das Pilotvorhaben "Erprobung neuer Zugänge in Ausbildung" treffen sich regelmäßig auch die Geschäftsführer/innen der Berliner Unternehmen mit Landesbeteiligung. Sie suchen nach Wegen, unter den Jugendlichen die für sie "Richtigen" zu finden und für sie Bewerbungs- und Einstellungsverfahren zu verbessern. Gemeint seien nicht schlicht die Besten, sondern die, die eine langfristige Bindung an den Betrieb anstreben. Die werden auch an Integrierten Sekundarschulen gesucht, wo zu 70 Prozent nichtdeutsche Herkunftssprachen vorherrschen.
Die Landesunternehmen unterstützen schon länger die vier Schüler-Clubs von "Berlin braucht dich!". Die arbeiten mit Interessierten höherer Klassenstufen in den Berufsfeldern Schutz und Sicherheit, Metall und Elektro, Gesundheit sowie Büro und Verwaltung zusammen. So berichtet etwa Vivantes-Bewerbungsmanagerin Romy Schlösser-Schulze von Aktivitäten bei den vier bis fünf Clubtreffen pro Schuljahr. Dort stellt der kommunale Klinikkonzern das Thema "kultursensible Pflege" und Online-Bewerbungstraining in den Mittelpunkt von Workshops. Dass in der Hauptstadt häufig Physikunterricht ausfällt, ist ein Problem, dem man im Metall- und Elektro-Club auch mit Nachhilfe begegnet. Übungseinheiten für Einstellungstests finden in Betrieben der Branche statt.
Die gemeinsamen Bemühungen aller Partner von "Berlin braucht dich!" zeigen Wirkung: Von den 1.354 Auszubildenden, die im Berliner öffentlichen Dienst 2016 neu eingestellt wurden, hatten 23 Prozent einen Migrationshintergrund. Bei der Polizei und einigen Bezirksämtern waren es noch wesentlich mehr. Die neuen Auszubildenden in den Betrieben mit Landesbeteiligung kamen sogar zu 28,4 Prozent aus Einwanderungsfamilien. "Doch ist die Zielmarke von einem Viertel noch längst nicht überall erreicht. Der Durchbruch muss nun kommen", fordert Senatorin Breitenbach. Dass berufliche Zukunft immer weniger eine Frage der Herkunft ist, gehöre für die Landespolitik dazu, so Breitenbach. Und ebenso, die soziale Spaltung zu bekämpfen: "Niemand darf verlorengehen."
Eine Frage der Einstellung
Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland. Heute haben bereits rund ein Fünftel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Einwanderungsgeschichte. ver.di ist ein Spiegel dieser Vielfalt in den Dienstleistungsberufen, die ver.di-Mitglieder mit Migrationshintergrund haben familiäre Bindungen in mehr als 100 Länder. Aber ihren Lebensmittelpunkt haben sie hier, und ihre Kinder auch. Doch oft genug noch ist es für Menschen mit Migrationshintergrund schwierig, Fuß zu fassen in der Arbeitswelt. Sie werden meist schon allein wegen ihres Namens bei Bewerbungen aussortiert. Oder beim Blick auf das Bewerbungsfoto. Das trifft auch junge Menschen, die in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert sind. Sie werden auch dann noch aussortiert, wenn sie einen Hochschulabschluss haben.
Anonymisierte Bewerbungsverfahren sollen inzwischen in vielen Kommunen und Unternehmen Abhilfe schaffen und Menschen mit Migrationshintergrund besser in den Arbeitsmarkt integrieren. Das Projekt "Berlin braucht dich!" lässt das Bewerbungsproblem gar nicht erst auflaufen. Es holt Jugendliche mit Migrationsgeschichte schon in der Schule ab, um sie für ganz verschiedene Berufe zu begeistern. Weil die Stadt ganz einfach auf die Potenziale dieser jungen Menschen nicht verzichten kann und will. Diejenigen jungen Auszubildenden, die auf diesen Seiten in Text und Bild vorgestellt werden, haben ihre Berufung allesamt über das Berliner Projekt gefunden, das vom ver.di-Bezirk Berlin-Brandenburg mit unterstützt wird. ver.di möchte, dass das Beispiel Schule macht, und hat deshalb eine Initiative unter dem Motto "Ausbildung statt Ausgrenzung" gestartet.
Und auf dem Laufenden bleiben unter www.facebook.com/verdi.migration