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Mit Schirm, Charme und berechtigten Forderungen in die TarifrundeFoto: Dietrich Hackenberg

Für die rund fünf Millionen Beschäftigten im Handel stehen in diesem Frühjahr und Sommer Tarifverhandlungen an. Die beiden Teilbranchen Einzel- und Versandhandel sowie Groß- und Außenhandel fordern deutliche Entgelterhöhungen vor allem für die Beschäftigten, die am stärksten von den Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel betroffen sind.

So fordern einige ver.di-Landesbezirke für den Einzel- und Versandhandel, etwa in Schleswig-Holstein, eine Erhöhung der Löhne und Gehälter um 2,50 Euro pro Stunde sowie die Anhebung der Stundensätze für die unteren Entgeltgruppen auf 13,50 Euro – um so denen zu helfen, die einen sehr großen Teil ihres Einkommens für die Lebenshaltungskosten aufwenden müssen. Nahezu 78 Prozent der Teilnehmer*innen an einer Umfrage vor Beginn der Tarifrunde 2023 hätten sich für Entgelterhöhungen von mehr als 10 Prozent ausgesprochen, heißt es in einer ver.di-Information für den Handel im Norden.

Gestartet ist die Tarifrunde 2023 mit ersten Verhandlungen Mitte April für die rund 490.000 Beschäftigten im baden-württembergischen Einzel- und Versandhandel: Für sie fordert der ver.di-Landesfachbereich Handel bei einer Laufzeit von 12 Monaten eine Entgelterhöhung um 15 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen sollen um 200 Euro monatlich steigen, die Sozialzulagen verdoppelt werden. Zudem möchte ver.di die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages durchsetzen, was angesichts der anhaltenden Tarifflucht vieler Unternehmen im Handel sehr wichtig wäre. Die Entgelterhöhung sei realistisch, befand der ver.di-Verhandlungsführer für Baden-Württemberg, Wolfgang Krüger, denn die Umsatzentwicklung im Einzelhandel sei im vergangenen und bisherigen Jahr weitgehend stabil. "Dies ist eine gute Voraussetzung für kräftige und nachhaltige Entgelterhöhungen."

Anders als in zurückliegenden Tarifrunden üblich, legten die Arbeitgeber bereits in der ersten Verhandlungsrunde ein Angebot vor, das allerdings weit entfernt von den ver.di-Forderungen liegt: 3 Prozent mehr Geld für die Beschäftigten und die Auszubildenden boten sie für das erste, weitere 2 Prozent für das folgende Jahr, womit auch die gewerkschaftliche Forderung nach einjähriger Laufzeit des Tarifvertrages übergangen wurde. Außerdem soll – wie in nahezu allen Branchen derzeit üblich – eine steuerfreie Inflationsausgleichsprämie in Höhe von insgesamt 1.000 Euro, in Teilbeträgen von 750 und 250 Euro gezahlt werden. Für Unternehmen in Notlagen wollen die Arbeitgeber eine "tarifliche Notfallklausel" durchsetzen. Sie bestritten die positive Umsatzentwicklung im Einzelhandel und drohten mit massivem Arbeitsplatzabbau für den Fall, dass sie 15 Prozent mehr Entgelt zahlen müssten.

"Unsere Verhandlungskommission hat sich davon nicht einschüchtern lassen, sondern einstimmig dieses Angebot als völlig unzureichend bezeichnet und es entsprechend abgelehnt", so Wolfgang Krüger. Für den 17. Mai wurde die zweite Verhandlungsrunde vereinbart. Zuvor informierte ver.di die Beschäftigten über den Stand der Dinge und rief "zu ersten Meinungskundgaben gegenüber ihrem Arbeitgeber" auf, einschließlich Warnstreiks.

Im Groß- und Außenhandel fordern etliche ver.di-Landesbezirke 13 Prozent mehr Entgelt bei einer Laufzeit von 12 Monaten, in vielen Fällen auch Festbeträge in Höhe von 400 Euro plus monatlich, was die Einkommen der unteren Entgeltgruppen überdurchschnittlich stärken würde. Die Auszubildenden sollen 250 Euro mehr erhalten. Auch in dieser Teilbranche wird die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge gefordert.

Ebenso wie bei den Verhandlungen im baden-württembergischen Einzelhandel präsentierten die bayerischen Arbeitgeber des Groß- und Außenhandels in der ersten Verhandlungsrunde am 24. April ein Angebot, das ebenso weit entfernt von den ver.di-Forderungen war: Mit 4 Prozent mehr Entgelt und Ausbildungsvergütung ab Dezember 2023 sowie weiteren 2,1 Prozent ein Jahr später sowie der obligatorischen Inflationsausgleichsprämie möchten die Arbeitgeber die Beschäftigten abspeisen – obwohl ihnen bewusst sei, "dass die seit Monaten steigenden Preise und die Einkommenssituation der Beschäftigten dramatisch ist", wie ver.di-Verhandlungsführer Thomas Gürlebeck erklärte. "Und trotzdem weigerten sie sich, auf unsere Forderung einzugehen und die Beschäftigten so schnell wie möglich durch eine Erhöhung der Entgelte zu entlasten." So dürfe es niemanden wundern, dass ver.di "in den nächsten Tagen zu Streiks mobilisieren" werde. Nächster Verhandlungstermin im bayerischen Groß- und Außenhandel ist der 23. Mai.

Seit zehn Jahren immer wieder Streiks

Amazon – Beschäftigte im Dauereinsatz für den Tarifvertrag

Vor Ostern streikten Beschäftigte der Amazon-Standorte in Werne, Winsen, Leipzig, Rheinberg, Bad Hersfeld und Koblenz zuletzt für die Tarifverträge des Einzel- und Versandhandels. Seit zehn Jahren sind die Kolleg*innen des weltweit agierenden Online-Händlers immer wieder bei Arbeitskämpfen aktiv, denn sie wollen sich nicht mit schlechter Entlohnung und miesen Arbeitsbedingungen abspeisen lassen, wie ver.di-Streikleiterin Monika Di Silvestre erklärte. Ostern sei ebenso wie Weihnachten für Amazon-Beschäftigte eine Zeit "von noch mehr Stress und Leistungsdruck". Angesichts von Massenentlassungen, die das Unternehmen angekündigt habe, sowie der Schließung von mindestens einem Verteilzentrum hätten die Kolleg*innen schlicht Angst um ihre Arbeitsplätze. Das Geschäftsmodell des Online-Händlers ignoriere die Bedürfnisse der Beschäftigten. "Während der Pandemie hat Amazon durch ihre Arbeit Rekordumsätze eingefahren", so Di Silvestre. Wenn nun ein nicht mehr ganz so starkes Wachstum gleich als Begründung für Massenentlassungen herhalten müsse, sei einmal mehr Amazons menschenfeindliche und rein profitorientierte Haltung bewiesen. ver.di und die Kolleg*innen werden auch zehn Jahre nach den ersten Streiks bei Amazon weiter für Tarifverträge sowie gute und gesunde Arbeitsbedingungen kämpfen. gg