Ein ungewöhnlicher Versuch, Zeitungszusteller für ver.di zu gewinnen

Zeitungszusteller sind unterwegs, wenn letzte Spätheimkehrer über Bordsteine stolpern. Spätestens um sechs Uhr muss das Blatt beim Abonnenten sein. Kolleginnen und Kollegen treffen sich auf der Nachttour so gut wie nie. Während der Arbeitszeit ergibt sich kaum eine Gelegenheit, sich darüber auszutauschen, wie hoch der Nachtzuschlag ist und ob die Wartezeit bezahlt wird, wenn der Laster mit den Zeitungen mal wieder zu spät an der Abladestelle eintrifft.

Nacht für Nacht ab 2 Uhr 30 unterwegs FOTO: BOSTELMANN / BILDFOLIO / PHOTOPOOL

Nur wenige Zeitungszusteller sind Mitglied bei ver.di, nur für wenige gilt der Tarifvertrag. Das soll sich ändern. Der Bezirk Rhein-Nahe-Hunsrück macht mit beim ver.di-Projekt Organizing (ver.di PUBLIK 11/06). Es geht darum, Menschen für die Gewerkschaft zu gewinnen, die dort arbeiten, wo die Löhne niedrig und die Arbeitsbedingungen ebenso schlecht sind wie der Organisationsgrad.

Die unerwartete Einladung

Wie erreicht die Gewerkschaft die einsamen Nachtarbeiter? Einfach einen Brief schreiben - das geht nicht, weil ver.di die Namen und Adressen nicht kennt. Die Gewerkschafter hatten eine andere Idee: Sie haben sich den Zustellbezirk zwischen Mainz und Worms herausgesucht, sämtlichen ver.di-Mitgliedern, die dort wohnen, geschrieben und sie um Unterstützung gebeten. Sie sollten ihrem Zusteller die beiliegende Einladung zum Feierabendfrühstück ins Zeitungsrohr legen. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Kurz vor Weihnachten sind Zeitungsboten besonders aufmerksam, weil Abonnenten ihnen häufig einen Geldschein als Dankeschön für die Nachtarbeit im Briefkasten hinterlassen.

Zum ersten Feierabendfrühstück sind drei von knapp 70 Zustellern gekommen. "Wir brauchen Geduld", sagt Manfred Lehmann vom Projektteam. Mit schnellem Erfolg habe er nicht gerechnet. Die beiden Zusteller, die noch nicht bei ver.di sind, hat Gewerkschaftssekretärin Birgit Sperner beraten. "Das spricht sich herum." Sie ist zuversichtlich: Ein paar regelmäßige Treffen und die Gruppe wird größer werden. Das ist auch nötig, weil sich bald einiges für die Zusteller ändern wird. Sie werden künftig auch Anzeigenblätter und Prospekte und - sobald die Bundespost ihr Monopol verliert - nicht mehr nur Geschäftspost, sondern auch Privatbriefe austragen. Dann könnte aus dem kleinen Job eine Teilzeitbeschäftigung werden und möglicherweise eine "Schmutzkonkurrenz" für die tariflich beschäftigten Postangestellten, fürchtet Ali Roth, Betriebsratsvorsitzender der Verlagsgruppe Rhein-Main. Der Verlag hat - ebenso wie andere - seine Zustellgesellschaften seit langem ausgegliedert, um keinen Tariflohn zahlen zu müssen. Ziel der Aktion Feierabendfrühstück ist daher, möglichst viele Mitglieder zu werben, bald einen Betriebsrat zu wählen und für einen Tarifvertrag zu kämpfen. Kommt das Frühstück gut an, kann die Idee in jeder Region nachgeahmt werden. Bundesweit gibt es etwa 250000 sozialversicherungspflichtige Zustellerjobs, schätzt Manfred Lehmann aus dem Projektteam. Und fast ebenso viele potenzielle Mitglieder für ver.di.MICHAELA BÖHM