"Kollege, Du bist der Kunst des Lesens überführt!" Weh' mir, was dräut? Ich hab's geahnt, wieder die Höchststrafe: Fron, Galeere, Tagesprotokoll! Hinter den Kulissen des ver.di-Bundeskongresses, in einem Verlies bar jeden natürlichen Lichts. Einzige Freunde: die Stenografen. Alle zehn Minuten reichen sie dir ihre Blätter mit Gesprochenem, das du zuvor über den Monitor schon nebenher mitgehört hast und nun zur Druck- und Online-Reife bringen sollst. Zuweilen ist auch Gebrochenes dabei - geschachteltes und verhaspeltes Deutsch, dem ein Sinn nur im Austausch mit seinem Schöpfer/seiner Schöpferin einzuhauchen ist. Selbst wenn du schnell fündig wirst im Saal, kostet das Zeit, die du nicht hast. Spannend und entspannend zugleich sind die Wahlen - da wird mehr gezählt als geredet. Ätzend jedoch die Beratung der Anträge: Nummern, Zitate, Empfehlungen, Beschlüsse nachblättern, vergleichen, überprüfen! So beugst du dich noch übers Papier, wenn der Saal längst leergefegt ist und du im Zweifel niemanden mehr fragen kannst. Aber richtig soll dein Ergebnis schon sein. Schließlich gilt es für die Ewigkeit - und den nächsten Morgen, wenn die Delegierten lesen, was sie am Vortag so nicht gesagt haben wollen.