Stefan Gemmel

Von der Auszeichnung zum "Lesekünstler des Jahres" habe ich nicht beim Lesen erfahren, obwohl wir uns zu Hause immerzu gegenseitig etwas vorlesen. Die Nachricht hat mich überrascht, als ich mit meiner Tochter Hausaufgaben machte. Da kam der Anruf vom Börsenverein, der die Auszeichnung verleiht, und ich dachte zunächst, das sei ein Streich. Doch natürlich habe ich mich riesig gefreut, als sich die Nachricht als wahr herausstellte.

Zwei schöne Arbeitsplätze

Wie sich jeder denken kann, habe ich zwei Arbeitsplätze. Den einen in Lehmen an der Mosel in meinem Arbeitszimmer, wo meine Bücher entstehen und ich mich auf meine Lesungen oder Literaturworkshops vorbereite. Ich habe dieses Arbeitszimmer so eingerichtet, dass ich mich dort richtig wohl fühle. Das Schönste an meinem zweiten Arbeitsplatz - den Bühnen, Schulen und Büchereien - sind die runden Augen, offenen Münder und großen Ohren, also das Gefühl, viele Kinder und Jugendliche zu begeistern mit meinen Geschichten. Ich lese ja nicht nur vor, sondern erzähle, wir spielen, manchmal sogar richtiges Theater, wir entwickeln spontan etwas zusammen. Du musst mit den Kindern immer Blickkontakt haben, dein Publikum ansprechen, um die Spannung zu halten, so gewinnst du vielleicht auch die, die lieber stören wollen, weil sie mit Büchern nichts am Hut haben. Wenn du dann in ihren Augen lesen kannst: "Okay, ich hör mal hin, vielleicht ist ja doch was dran", dann hast du gewonnen, dann kannst du sie packen. In gewisser Weise verstehe ich diese Ablehnung sogar. Ich hatte Eltern, die auch nicht viel mit Büchern anfangen konnten, eher mit Sport. Bei uns zu Hause wurde nicht gelesen, aber oben im Haus wohnte meine Oma und die war eine wunderbare Erzähloma, mit der man stundenlang Geschichten erfinden konnte. Sie hat wohl das Interesse in mir geweckt, mit meiner Fantasie auf Reisen zu gehen. Heute ist das Lesen oder Geschichtenerzählen nicht mehr aus unserem Leben wegzudenken, dann findet sich meine Familie ein, meine beiden Töchter, meine Frau, sie arbeitet als Lehrerin.

Am liebsten lese ich vor Gruppen. 50 Kinder, das ist ideal für mich; mit zehn oder 15 etwas zu entwickeln, das ist mir meist zu kuschelig. Es geht ja um Kommunikation, um Impulse. Ich mache diese Arbeit jetzt seit 15 Jahren. In der Zeit hat sich einiges geändert. Die Jugendlichen und auch die Kinder wollen Geschichten, in denen sich Spannung durch Gewalt herstellt; Michel und Pippi, die waren vorgestern. Harry Potter hat mächtig was umgekrempelt. Ich habe auf die Fantasy-Welle mit den "Schattengreifer"-Büchern reagiert.

Protokoll: Burkhard Baltzer