Die ver.di Jugend protestiert bildmächtig gegen die zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnisse ihrer Generation - lange Schlange vor einer Sparkasse und blutige Einschusslöcher auf der Brust

Von Stefan Zimmer

"Du Sozialschmarotzer!", ertönt es mit einem Mal am Berliner Alexanderplatz von überall her. Überwiegend junge Leute beschimpfen sich gegenseitig als Faulenzer und Transferempfänger. Passantinnen und Passanten bleiben verwundert stehen und beobachten das Schauspiel. Im nächsten Moment strömen die gerade noch pöbelnden Männer und Frauen zu einem Karton in der Mitte zwischen Saturn-Kaufhaus, einer Sparkassenfiliale und einem Bürogebäude. Sie beginnen im Kreis um den Karton zu laufen und bleiben plötzlich wie auf ein geheimes Kommando stehen.

Wir befinden uns mitten in einem Radioballett. Bei dieser Aktionsform der Hamburger Künstlergruppe Ligna erhalten die Aktivisten Anweisungen über kleine Kopfhörer und tragbare Radioempfänger. Ein Moderator leitet das Ballett an. An diesem Freitag im Mai geht es um prekäre Arbeit, von der immer mehr Menschen unter 30 Jahren betroffen sind. "Während die Exportwirtschaft wieder brummt und die Bundesagentur Erfolgsmeldungen vom Arbeitsmarkt verkündet, lebt eine ganze Generation in zunehmender Unsicherheit", begründet Ringo Bischoff, ver.di-Bundesjugendsekretär, die Aktion in Berlin. Die Aktiven der ver.di Jugend stehen mittlerweile in einer langen Schlange vor dem Eingang der Sparkasse. Assoziationen an die Wirtschaftskrise von 1929 entstehen. Damals versuchten Millionen Menschen, ihr Geld von den Banken zu holen, bevor diese pleite gingen.

Zu einem Bankensturm kam es bei der aktuellen Wirtschaftskrise bisher nicht. Die einzelnen Staaten sind mit riesigen Rettungspaketen eingesprungen und haben die Banken vor dem Bankrott bewahrt. Die Wirtschaft ist hierzulande zudem wieder auf Wachstumskurs. Doch bei der Jugend kommt von den steigenden Gewinnen nichts an. Im Gegenteil. Die Perspektiven der jungen Generation sind heute vor allem eins: unsicher. Laut einer Studie der IG Metall vom Oktober 2010 steckt die Hälfte der Beschäftigten bis 24 Jahren in sogenannten prekären, also unsicheren Arbeitsverhältnissen. Diese Zahl ist gegenüber dem Krisenjahr 2009 sogar noch um neun Prozent angestiegen, während sie bei den Älteren zumindest stabil blieb. Junge Menschen sind also besonders stark betroffen. Das zeigt sich auch bei einem Blick auf die viel diskutierte Leiharbeit. Jede zweite Leiharbeitskraft ist unter 30 Jahre alt. Und das bei einer alternden Bevölkerung.

Theoretisch haben junge Menschen heute zwar mehr Optionen als alle ihre Vorfahren. Doch praktisch erleben sie derzeit eine Zweiteilung der Gesellschaft. Die eine Hälfte, die noch gut bezahlte, unbefristete Vollzeitbeschäftigung hat, und die wachsende andere Hälfte, die nur zwischen unbezahlten Praktika, mehreren Minijobs, Leiharbeit oder einer befristeten Stelle wählen kann. Neben der ökonomischen Wirkung, sich einfach vieles nicht leisten zu können, prägt vor allem das Ungewisse das Lebensgefühl dieser Generation. Die Unsicherheit ist immer da. Junge Menschen in Leiharbeit wissen nie, ob sie einen Kredit jemals zurückzahlen können. Bei Familiengründung denken viele heute vor allem an das damit verbundene Armutsrisiko. Und das ist sehr real. Jedes Jahr landen mehrere Hunderttausend in Überbrückungsmaßnahmen, weil sie keinen Ausbildungsplatz finden. Auch eine gute Ausbildung bietet heute wenig Sicherheit. Selbst Hochschulabsolventinnen und -absolventen finden sich nach dem Abschluss häufig in Praktika wieder. Nur 19 Prozent schaffen es nach dem Studium in eine unbefristete Anstellung.

Das soziale Netz unserer Gesellschaft hat mittlerweile große Löcher. Wer rausfliegt, fällt oft ganz durch. Jeder zweite Erwerbslose bis 24 Jahren lebt von Hartz IV. Gerade hier hat die Bundesregierung mit ihrem Sparpaket erneut gekürzt. Rentenbeiträge und Elterngeld gibt es jetzt gar nicht mehr, und Maßnahmen zur Förderung werden immer seltener bewilligt. Wer einmal im Hartz-IV-System gelandet ist, kommt nur noch mit viel Glück wieder heraus.

Das symbolisiert die ver.di Jugend an diesem Freitagmittag mit drastischen Bildern. Zum Finale des Radioballetts liegen die Aktiven wie tot auf dem Rücken. Auf den einheitlich weißen T-Shirts sind blutige Einschusslöcher zu sehen. Daneben steht: "Getroffen vom Sparpaket." "Die Politik der Bundesregierung wälzt die Kosten der Krise auf die Jugend ab. Das Sparpaket erhöht den Druck nochmals", warnt Ringo Bischoff nach der Aktion.

Im Anschluss beginnt die Bundesjugendkonferenz in der ver.di-Bundeszentrale am Paula-Thiede-Ufer. Prekäre Beschäftigung ist auch dort ein wichtiges Thema. Schließlich geht es bei der Konferenz um die Interessen der jungen Generation. Und die wollen die rund 150 Delegierten künftig noch konsequenter vertreten: mit Aktionen des zivilen Ungehorsams und politischen Streiks. "Die gesellschaftliche Situation nach der Wirtschaftskrise erfordert entschiedenere Gegenwehr", kommentiert Ringo Bischoff die Beschlüsse. Von Resignation und Politikverdrossenheit in der Jugend ist an diesem Wochenende jedenfalls nichts zu spüren.

Das soziale Netz unserer Gesellschaft hat heute große Löcher. Wer rausfliegt, fällt oft ganz durch