Oskar Roth will nicht erst anfangen zu kämpfen, wenn es ihm schlecht geht. Mit 23 Jahren sitzt er als jüngstes Mitglied in der ver.di- Tarifkommission der Versicherungsbranche

"Die Höhe des Gehalts und die Qualität der Ausbildung kommen ja nicht von alleine, da haben Leute für gekämpft"

Von Jenny Niederstadt

Sein Aha-Erlebnis hat Oskar Roth schon vor der ersten Betriebsgruppensitzung. Er bittet den Pförtner um die Raumnummer - der schaut ihn entgeistert an. Vor der entsprechenden Tür fragt er, ob er hier richtig sei - verblüffte Blicke. Er betritt das Zimmer - und: "Die waren richtig geschockt", erinnert sich Oskar Roth heute. "Ein junger Mensch! Kommt zu uns! Freiwillig!" Er grinst. "Mir war nicht klar, dass ich so ein Exot bin." Jedenfalls hier ist er das erstmal.

Kein Wunder: Da wird einer mit gerade mal 19 Jahren ver.di-Mitglied - und sieht das als ganz selbstverständlich an. Obwohl Oskar Roth da noch nicht einmal sein Abi in der Tasche hatte und nur wusste, dass er in ein paar Monaten seine Ausbildung bei der Allianz in Hamburg beginnen würde. Er freute sich auf die Arbeit bei der Versicherung und das erste eigene Gehalt. Und da sei es für ihn ein ganz logischer Schritt gewesen, in die Gewerkschaft einzutreten, sagt Oskar Roth heute. "Die Höhe des Gehalts und die Qualität der Ausbildung kommen ja nicht von alleine, da haben Leute für gekämpft", sagt der mittlerweile 23-Jährige. Er füllt den Mitgliedsantrag aus, wird Azubi - und sieht dann den Aushang, der zur Sitzung lädt.

Ein Wendepunkt. Denn seitdem ist aus der zunächst anonymen Mitgliedschaft ein engagiertes Gewerkschaftsleben geworden. Gleich im Anschluss an das Treffen laden die älteren Kolleg/innen zum Kaffee, wollen ihn für weitere Aufgaben gewinnen. "Ich war plötzlich so eine Art Hoffnungsträger", sagt Oskar Roth, "dabei kann ich mit so einer Rolle gar nicht gut umgehen." Zu Schulzeiten sei er eher ein Einzelgänger gewesen. "Ich mache gern mein Ding, jetzt muss ich die Leute manchmal antreiben, das musste ich erst lernen." Denn bald, nur ein Jahr nach seinem Einstieg, wird der Hamburger in die Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) der Allianz gewählt, übernimmt sogar deren Vorsitz.

Protest ist cool

Seitdem setzt er sich für die Interessen von 110 Azubis ein. Für sie will er immer ansprechbar sein, gerade für die Anfänger. Sein eigener Start als Vorsitzender ist chaotisch, denn alle Mitglieder der JAV sind neu. "Wir mussten erst lernen, uns zu organisieren." Doch schnell entwickelt sich eine positive Routine. Das Team will auch die jungen Kolleg/innen erreichen, die nicht bei ver.di organisiert sind. Da sich Oskar Roth für Grafikdesign und Neue Medien interessiert, kommt er auf die Idee, einen Newsletter zu machen. Seitdem versorgt er alle Hamburger Allianz-Azubis mit Infos und Nachrichten, lädt aber auch zur Jahresparty ein. Viel Arbeit - auf die er wenig Resonanz bekommt. Auch die Beteiligung an den ver.di-Aktionen sei gering, sagt er, zu Demos kämen gerade mal eine Handvoll junger Beschäftigter. "Da bin ich manchmal richtig wütend", gibt Oskar Roth zu. "Warum setzen sich so wenige Leute für die eigenen Belange ein? Das verstehe ich einfach nicht." Ist Protest uncool?

Klar, Oskar Roth trifft immer wieder auf Vorurteile. "Gewerkschafter? Sind das nicht die alten Männer, die rauchend in ihren Stammkneipen sitzen und Karl Marx diskutieren?" Diese Klischees hört er oft. Die Realität sähe doch aber ganz anders aus, bei der Allianz habe sich eine bunt gemischte Gruppe zusammengefunden, "die modern und effektiv arbeitet", sagt Oskar Roth. Auch deshalb hat er sich in den Bundesfachgruppenvorstand Versicherungen wählen lassen - ein Aushängeschild. Der Beweis, dass es die jungen Köpfe in den Reihen der Gewerkschaft sehr wohl gibt.

Tatsächlich wirkt Oskar Roth frisch und undogmatisch, trägt Karohemd und Jeans statt wie im Dienst Anzug und Krawatte. Er lacht viel, fragt direkt und antwortet schnell - gern auch mal aus dem Bauch raus. Seine Aktivitäten hält er schlicht für selbstverständlich, er sei kein überdurchschnittlich engagierter Mensch. "Aber Einfluss auf die Gesellschaft will man doch trotzdem nehmen." Es müsse ja nicht in der Gewerkschaft sein. Vielleicht im Umwelt- oder Kinderschutz. "Aber dass viele Leute gar nichts tun und sich auf ihren Job und die Freizeit reduzieren, finde ich schrecklich."

Er selbst hat ein sehr familiäres Gefühl für sein Unternehmen. Selbst an seinen freien Tagen schaut er manchmal bei den Kolleg/innen in der Abteilung Sach und Betrieb auf einen Kaffee vorbei. Ende Mai zum Beispiel waren in Hamburg Warnstreiks angekündigt, er hatte frei. Zum Streik ging Oskar Roth trotzdem - allerdings erst um zehn. "Wenn ich kann, schlafe ich gern lang!" Danach noch Mittagessen mit den Kolleg/innen, Kaffeetrinken in der Abteilung - zum Schluss hatte er seinen Urlaubstag im Büro verbracht. "Ich mag meine Kollegen und mein Unternehmen, sie sind ein wichtiger Teil meines Lebens und nichts, was ich schnell hinter mich bringen will."

Ständig auf Achse

Seit Januar allerdings geraten seine Tage doch etwas in Schieflage. Denn er nimmt an den aktuellen Tarifverhandlungen für die Versicherungsbranche teil, ist das jüngste Mitglied der Kommission. Da bleibt nur noch wenig Zeit für Freunde, Partys und die Freundin. Er ist ständig auf Achse, fährt nach Wiesbaden, München und Köln. "Das ist eine neue Welt für mich, ein Leben wie ein Geschäftsmann, sehr spannend." Aber der Spagat ist anstrengend: Oskar Roth merkt, dass er zunehmend unter Spannung steht. Im Betrieb malt er Transparente, schreibt Artikel für seinen Newsletter und berät junge Mitglieder, abends verfolgt er dann die Entwicklungen im Tarifstreit, informiert sich über Konflikte in anderen Branchen, plant Termine und Gespräche, liest Politik- und Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen. Und wenn er sich etwas gönnen will, studiert er dann auch noch den einen oder anderen Geschäftsbericht von Unternehmen, die ihn interessieren. "Zugegeben, ein etwas seltsamer Spleen." Die Zahlenkolonnen sind seine stille Leidenschaft.

Die Belastung wächst. "Manchmal habe ich schlaflose Nächte, weil ich im Kopf schon die kommenden Tage plane." Dazu kommt: Die Hamburger ver.di-Gruppe will ihn für weitere Aufgaben gewinnen. Doch er sagt erst einmal alle Anfragen ab. "Mehr geht zurzeit wirklich nicht!"

An den Tarifverhandlungen aber wollte er unbedingt teilnehmen. "Ich finde das sehr spannend, schon allein die ganzen Vorstände mal persönlich zu sehen und nicht nur in der Zeitung." Die dicke Luft zwischen den Verhandlungstischen - da ist er selbst angespannt. Und als der Verhandlungsführer der Arbeitgeberseite sein erstes Statement abgibt, ist Oskar richtig aufgeregt. Sich selbst sieht er vorerst nur als Beobachter. Selbst etwas sagen? "Das traue ich mich noch nicht!"

Doch das wird noch kommen, ist sich Beate Mensch, die Verhandlungsführerin von ver.di, sicher. "Der Oskar ist ein Phänomen", sagt sie. "Schon jetzt saugt er alle Informationen auf wie ein Schwamm, sitzt hellwach in den Gesprächen und bildet sich eine eigene Meinung." Aber dann seine Position auch den Arbeitgebern gegenüber zu beziehen - das müsse man sich in so jungen Jahren überhaupt erst mal trauen! Denn der Ton in den Verhandlungen sei sehr direkt, wer noch nie dabei war, sei zunächst erstaunt. "Aber Oskar zieht daraus sehr viel Selbstbewusstsein", sagt Beate Mensch. "Das macht ihn in meinen Augen nicht nur für die Arbeit in der Gewerkschaft sehr stark, sondern auch ganz persönlich."

Bei den Verhandlungen ist er als Jugendvertreter dabei. Als er in der Vorstellungsrunde seinen Namen und sein Unternehmen nennt, blickt der Arbeitgebervertreter der Allianz, sein Personalleiter, überrascht hoch. "Da musste ich schon kurz schlucken und dachte: Ist es jetzt mit meiner Karriere im Konzern vorbei?" Grund dafür hat er nicht, im Gegenteil. Sein Ausbildungsleiter hatte ihn erst auf die Idee gebracht, sich noch stärker zu engagieren, Sonderurlaub für seine Aktivitäten ist selbstverständlich. Und auch wenn nun ein Viertel der Arbeitszeit durch ver.di ausgefüllt ist, kam nie ein genervter Kommentar. Dabei spürt er durchaus, dass seine Posten die Arbeit in seiner Abteilung mitunter komplizierter machen. Doch die Kolleg/innen schätzen seine Arbeit - die für die Versicherung und die für die Gewerkschaft. "Und wer sich jetzt nicht engagiert, kann später nichts fordern", sagt Oskar Roth. "Ich will nicht erst anfangen zu kämpfen, wenn es mir schlecht geht."

Fasziniert von Zahlenkolonnen

Oskar Roth wird am 10. März 1988 in Majli-Saj in Kirgisien geboren. Sein Abitur macht er mit 19 Jahren in Hamburg. Musik, Theater, Kino und Architektur, dafür interessiert er sich. Architekt ist sein ursprünglicher Berufswunsch, doch während eines Praktikums bei der Deutschen Bank entdeckt er seine Leidenschaft für Zahlenkolonnen. Er wird Kaufmann für Versicherungen und Finanzen bei der Allianz Deutschland AG in Hamburg, die ihn nach seiner Ausbildung übernimmt. Im Innendienst bearbeitet er Hausratsversicherungen und Versicherungen für Wohngebäude. Wenn er nicht als Vorsitzender der Jugend- und Auszubildendenvertretung im Betrieb unterwegs ist. Oder als jüngstes Mitglied in der ver.di-Tarifkommission, die derzeit über höhere Gehälter in der Versicherungsbranche mit den Arbeitgebern verhandelt. Oskar Roth hat eine Freundin und lebt in einer Zwei-Mann-WG.