Regelrecht ungeschützt

Viele Frauen, die ALG II beziehen, sparen aus Geldnot die Pille oder die Spirale - und werden ungewollt schwanger

Frau Schneider* ist verzweifelt. Sie und ihr Freund leben von Hartz IV, er trinkt, manchmal schlägt er sie auch, sie haben schon zwei Kinder, und jetzt ist sie wieder schwanger. Sie entscheidet sich zur Abtreibung. Anschließend möchte sie gern die Pille nehmen. Aber wovon bezahlen? 345 Euro Arbeitslosengeld II (Alg II) bekommt sie im Monat. Nach einer Warenkorb-Berechnung der Wohlfahrtsverbände kann sie davon 13 Euro 17 für Gesundheit und Medikamente ausgeben. Viele Pillen kosten mehr. Frau Schneider versucht es beim Sozialamt: Ob nicht vielleicht in ihrem Fall die Kosten extra übernommen werden? Das Amt lehnt ab.

Drei Monate später ist Frau Schneider wieder schwanger. Sie bekommt das Kind, eine Frühgeburt im siebten Monat. Kurz darauf trennt sie sich von ihrem Freund. Ein halbes Jahr später lernt sie einen neuen Mann kennen. Und wird wieder schwanger. Aber ein viertes Kind, in ihrer Lage? Frau Schneider treibt zum zweiten Mal ab. Die Pille kann sie sich immer noch nicht leisten.

Fälle wie diese spielen sich seit 2004 hundert-, wenn nicht tausendfach in der Bundesrepublik ab. Denn während früher das Sozialamt die Kosten für Pille oder Spirale übernahm, wird seit dem Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes nur noch das bezahlt, was auch die Krankenkassen übernehmen, Verhütungsmittel nur bis zum 20. Lebensjahr. Die Folge: Viele Frauen, die Alg II beziehen, können sich Pille oder Spirale nicht mehr leisten.

pro familia schlägt Alarm: In den Beratungsstellen bundesweit meldeten sich immer mehr Bezieherinnen von Alg II, die aus Geldnot nur noch unzureichend oder gar nicht mehr verhüten. "Wir haben jede Woche mehrere solcher Fälle", sagt Eva Zattler, Beraterin bei pro familia in München, "und nicht selten sind die Frauen, wenn sie zu uns kommen, bereits ungewollt schwanger."

Wie viele Frauen betroffen sind, weiß auch pro familia nicht. Aber dass Hartz IV auch die Verhütung betrifft, beweist eine Studie der Hochschule Merseburg. Von 69 befragten Alg II-Empfängerinnen sagen 80 Prozent, dass der Regelsatz die Kosten für Verhütungsmittel nicht mehr ausreichend abdeckt. Nur 26,9 Prozent verwenden die besonders sicheren, aber teuren Mittel Pille, Nuva Ring, Dreimonatsspritze, Hormonpflaster, -stäbchen oder -spirale. Im Bevölkerungsdurchschnitt sind es 45,7 Prozent allein für die Pille.

Bei den billigeren Kondomen ist es genau umgekehrt: Während nur 13,1 Prozent aller Frauen diese bevorzugen, sind es bei den Alg II-Empfängerinnen 59,3 Prozent. Auf die Frage, wie Hartz IV ihr Verhütungsverhalten verändert hat, sagen 67 Prozent, dass sie zuvor bei jedem Geschlechtsverkehr verhütet haben - mit Alg II sind es nur noch 30 Prozent. Wenn sie ihr eigenes Verhütungsverhalten allgemein bewerten sollen, geben sich die Frauen im Durchschnitt heute die Note 2,9 im Gegensatz zu 1,9 vor dem Bezug von Alg II.

"Der Regelsatz reicht einfach nicht, um eine gute und sichere Verhütung zu gewährleisten", sagt Gisela Notz, Vorsitzende des pro familia-Bundesverbandes. Die Pille kostet je nach Packungsgröße fünf bis 17 Euro pro Monat, der Nuva Ring mindestens 13 Euro, von der viel teureren Spirale ganz zu schweigen. Einige wenige Städte und Kommunen übernehmen die Kosten weiterhin, einige aber auch nur für Langzeitmittel wie die Spirale, die nicht für alle Frauen geeignet ist.

Auch Kondome kosten

Nun könnte man argumentieren, dass ALG II-Empfängerinnen ja immer noch mit Kondom verhüten könnten. "Aber auch Kondome kosten Geld", sagt Notz, "und die Frau hat dann die Verhütung nicht mehr selbst unter Kontrolle, sondern ist auf die Mitwirkung des Partners angewiesen. Verhütung ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Sie muss genau auf die Frau oder das Paar passen, damit sie auch sicher ist."

Diesem Umstand haben die Vereinten Nationen Rechnung getragen, als sie 1994 auf der Internationalen Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung in Kairo ein Aktionsprogramm zur Familienplanung verabschiedeten. Darin wird ausdrücklich das Recht von Männern und Frauen formuliert, "Zugang zu sicheren, erschwinglichen und akzeptablen Familienplanungsmethoden ihrer Wahl zu haben." Auch die Bundesrepublik hat das damals unterschrieben. 2001 legte das Europäische Parlament nochmal nach und forderte die Regierungen seiner Mitgliedsstaaten auf, "darauf hinzuwirken, dass kostenlose oder kostengünstige Verhütungsmittel für unterversorgte Gruppen wie Jugendliche, ethnische Minderheiten und sozial Ausgeschlossene bereit gestellt werden."

"Selbstbestimmte Sexualität ohne Angst vor Schwangerschaft ist ein Menschenrecht," sagt Notz, "und dieses Recht ist in Deutschland nicht mehr für alle Frauen gewährleistet." Das Bundesgesundheitsministerium sieht sich aber nicht als zuständig an und verweist an das Ministerium für Arbeit und Soziales. Das wiederum beruft sich auf den Leistungskatalog der Krankenkassen, der Verhütungsmittel ausschließt. Bei besonders hohen Einmalkosten, etwa für die Spirale, könne ja ein Darlehen gewährt werden, das dann in kleinen Raten getilgt wird. Eine Debatte, Verhütungsmittel wieder zu übernehmen oder den Regelsatz für Frauen entsprechend anzupassen, "gibt es derzeit nicht", so eine Sprecherin.

Von den Parteien äußern sich auf Bundesebene einzig die Fraktion der Linken und auf Landesebene einige Grüne zu dem Problem. Die stellvertretende Parteivorsitzende und sozialpolitische Fraktionssprecherin der Linken, Katja Kipping, fordert: "Selbstbestimmte Familienplanung und Schutz vor Aids darf nicht an niedrigen Sätzen scheitern." Die Linke fordert eine Anhebung des Regelsatzes auf 435 Euro und begründet dies explizit auch mit den Kosten für Verhütungsmittel. pro familia fordert, Verhütungsmittel wieder als Sonderleistung zu gewähren.

In München hat pro familia für besonders dringende Fälle einen Fonds eingerichtet, aus dem Verhütungsmittel bezahlt werden. Bis zu 170 Frauen werden jährlich versorgt. Die Stadt unterstützt den Fonds, soweit Mittel vorhanden sind. "Das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Beraterin Zattler, "wir können noch nicht einmal öffentlich für den Fonds werben, weil wir nicht allen Frauen helfen könnten." Auch in Bonn hat die Stadt die Notwendigkeit erkannt und stellt pro familia und drei weiteren Schwangerschaftsberatungsstellen insgesamt 36000 Euro für Verhütungsmittel zur Verfügung. "Es geht um die Vermeidung ungewollter Schwangerschaften", sagt Beraterin Brigitte Baumeister, "wenn eine Frau in einer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation ungewollt schwanger wird, sieht sie oft keine andere Möglichkeit als abzubrechen." Das zahlt dann das Amt.(* Name geändert)