Vor allem Frauen zwischen 35 und 50 Jahren bilden sich weiter in den neuen Gesundheitsberufen. Als Shiatsu-Praktikerin muss man den ganzen Körper einsetzen. Zu Besuch in einem Prüfungskurs

Shiatsu - von Körper zu Körper mit sanftem Druck

Seit Februar 2006 wird in Berlin der Palast der Republik abgerissen. Nur wenige Meter entfernt auf der anderen Uferseite der Spree werden in den Kurfürstenhöfen schon ungefähr genauso lange Körper wieder aufgerichtet. In den neo-gotischen Backsteingebäuden hat sich Campus Naturalis eingemietet, ein Weiterbildungsträger für "ganzheitliche Gesundheitsbildung", wie sich die gemeinnützige Einrichtung selbst bezeichnet. Berufsbegleitend kann man hier Seminare in Ayurveda, Körpertherapie und Massage, Ernährung und Wellness, Kunst, Tanz und Bewegung, Psychologie und Naturheilkunde belegen. In insgesamt 22 alternativen Gesundheitsberufen ist eine Ausbildung möglich.

Die Kraft von Mutter Erde

An diesem sonnigen Samstag wärmen sich zwölf Frauen für ihren Shiatsu-Prüfungskurs auf. Mit leicht eingeknickten Beinen stehen sie in einem hellen, großen Raum auf blauen und bunten Decken, lockern Beine, Arme, Bauch, Rücken, Nacken und Kopf. Sie schütteln sich, lassen die Arme wie die Rotorblätter eines Hubschraubers kreisen, schwingen mit dem ganzen Körper vor und zurück, kommen wieder zu Ruhe. Die Leiterin und Prüferin des Kurses gibt den Ablauf der Aufwärmübung vor, intoniert Sätze wie "Spürt das Shi, das Quellwasser in euren Beinen, spürt das Shi in euren Ellenbogen" und "Wir spüren die Kraft von Mutter Erde". Zum Schluss üben sich alle in "einer der wichtigsten taoistischen Übungen": Sie lachen herzhaft und anhaltend.

Dass die Situation nicht wirklich zum Lachen ist, zeigt sich anschließend. Sechs Frauen bereiten sich in aller Stille auf ihre Prüfungsbehandlung als Shiatsu-Praktikerin vor. Alles, was sie in den letzten sechs Monaten von Donnerstag bis Sonntag oder in einem Jahr an den Wochenenden über die in Japan entwickelte Form der Körpertherapie gelernt haben, kommt auf den Prüfstand. Jetzt müssen sie beweisen, dass sie allein durch die richtigen Fragestellungen herausfinden, welche Shiatsu-Behandlung ihre Klientin oder ihr Patient braucht. Dass sie allein durch Handauflegen, Fingerdruck und durch das eigene Körpergewicht Wohlbefinden verschaffen. Dass ihre Kunden für das Geld, das sie in ihre Behandlung investiert haben, angenehm gestärkt und aufgerichtet zurück in den Alltag kehren.

Gabriele ist besonders aufgeregt. Sie hat wegen Krankheit nicht alle Kurstermine mitmachen können, aber immerhin 80 Prozent. Die sind Pflicht, um zur Prüfung zugelassen zu werden. Noch mehr Sorge bereitet ihr, dass sie sich freiwillig bereit erklärt hat, die erste Fremde im Kurs zu behandeln. Bisher waren die Frauen immer unter sich, haben gegenseitig an sich geübt. "Jetzt wird es richtig ernst", sagt Gabriele mit Entsetzen. Aber sie will die Prüfung schaffen. Zurzeit verdient sie ihr Geld in der Landschaftsgärtnerei ihres Mannes und in einem Callcenter. Aber sie möchte "etwas Eigenes" haben, sie möchte sich als Shiatsu-Praktikerin und Aromatherapeutin auch selbständig machen. Um davon leben zu können, müsste sie 28 Euro an einer Behandlung verdienen. Urlaub, Krankheitstage, Raum, Material etc. eingeschlossen, müsste sie 52 Euro für eine Stunde nehmen, um auf ihre Kosten zu kommen. Das hat sie sich schon ausgerechnet. Auch deshalb soll jetzt nichts mehr schief gehen.

Die Wirkung per Fingerdruck

Tatsächlich ist sie anfangs etwas nervös, stellt ihre Fragen zu genau, lässt nicht genug Spielraum für Antworten, die vielleicht auf eine andere Diagnose deuten könnten. Doch in der Behandlung kommt sie in ihr Element. Die Hände sind zwar warm und feucht vor Aufregung, doch der Druck, den Finger, Handballen, Ellenbogen, Knie und Körpergewicht ausüben, zeigt Wirkung. Die fremde Patientin fühlt sich hinterher entspannt und beschwingt. In einem Nachgespräch mit Prüferin, Gabriele und der Behandelten werden alle Details noch einmal durchgegangen. Gesprächsführung, Diagnose, Körperhaltung, die Behandlung an sich. Gabriele ist nicht mit sich zufrieden, aber sie besteht und weiß, woran sie noch üben muss.

500 bis 600 Menschen, hauptsächlich Frauen zwischen 35 und 50 Jahren, bilden sich jährlich allein bei Campus Naturalis in einem der vielen Gesundheitsberufe fort. Außer dem Heilpraktiker ist keiner dieser Berufe staatlich anerkannt. Dennoch wächst die Branche beständig, die sich eher dem generellen Wohlbefinden, der so genannten Wellness, und der Vorbeugung annimmt. Schon heute arbeiten mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland im Wellness-, Fitness- und Pflegebereich. Bis zu 700000 neue Jobs werden im 21. Jahrhundert in der Gesundheitswirtschaft nach Prognosen unter anderem der Stiftung Warentest entstehen. Shiatsu-Praktiker zählen dazu. Im Ursprungsland Japan ist Shiatsu als eigenständige Behandlungsmethode staatlich anerkannt. Die EU-Kommission hat sie 1997 als eine von insgesamt acht Methoden der Komplementär-Medizin anerkannt, vor allem bei der Behandlung von Beschwerden am Bewegungsapparat.

Für Heil-Shiatsu braucht's den Heilpraktiker

Bleibt die Frage: Bei welchem Bildungsträger mache ich meine Ausbildung? Das Shiatsu-Seminar von Campus Naturalis ist in der Datenbank KURSNET der Agentur für Arbeit gar nicht zu finden, im Internet unter 90000 anderen Kursen. Simone, die in Gabrieles Kurs assistiert, hat ihre Ausbildung zur Shiatsu-Praktikerin ebenfalls bei Campus Naturalis gemacht. 17 Jahre arbeitete sie beim DGB-Rechtsschutz, bis sie sich zur klassischen Masseurin umschulen ließ. In der U-Bahn entdeckte sie dann eine Anzeige von Campus Naturalis und bildete sich hier in Shiatsu fort, ist heute "mobile Gesundheitspraktikerin" und gibt Massagen am Arbeitsplatz. "Der Kurs ist gut, aber was wir machen, ist reine Wellnessbehandlung. Für Heil-Shiatsu ist diese Grundausbildung nicht ausreichend", sagt sie. Sie will deshalb noch ihren Heilpraktiker machen, wegen der staatlichen Anerkennung. Ob sie diese Ausbildung auch bei Campus Naturalis macht, das weiß sie noch nicht.