Interview

GOLNAR SEPEHRNA studiert Geschichte, engagiert sich in ver.di sowie bei "harte zeiten - junge sozialisten" an der Uni Hamburg

ver.di PUBLIK | Zum zweiten Mal in diesem Jahr streiken die Studierenden. Ist das nicht ein paradoxes Kampfmittel? Streik richtet sich ja normalerweise gegen Arbeitgeber. Sich der Bildung zu verweigern schadet dagegen vor allem den Streikenden selbst.

Golnar Sepehrnia | Es klingt zunächst paradox. Aber was heute in den neuen Bachelor- und Masterstudiengängen läuft, verhindert Bildung im eigentlichen Sinne. Permanente Prüfungen, korsettartige Module und die Vergabe von Leistungspunkten schaffen einen riesigen Druck. Wenn man sich wirklich etwas aneignen, es verstehen und geistig durchdringen möchte, sollte man lieber auf Lehrveranstaltungen verzichten.

ver.di PUBLIK | Ist die bildungsbürgerliche Vorstellung einer zweckfreien Bildung heute wirklich noch ein zeitgemäßes Ideal?

Sepehrnia | Es geht nicht um Zweckfreiheit, sondern um gesellschaftskritische Wissenschaft - um soziale Verantwortung. Die immer stärkere Ausrichtung des gesamten Bildungssystems auf die unmittelbaren Anforderungen von Arbeitgebern haben dazu geführt, dass das Niveau immer weiter abgesunken ist. Man lernt heute fast nur noch etwas aus Angst vor der Prüfung. Wir wollen raus aus diesem Hamsterrad.

ver.di PUBLIK | Was heißt das in der Konsequenz?

Sepehrnia | Wir fordern eine sehr weitreichende Studienreform von unten - das heißt mit voller Beteiligung der Studierenden. Dabei muss unbedingt über sinnvolle Studieninhalte diskutiert werden: Wie können Hochschulen dazu beitragen, gesellschaftliche Probleme wie Krieg, Armut, Unterentwicklung, Massenerwerbslosigkeit, Ressourcenverschwendung und Umweltzerstörung anzugehen? Wir verlangen eine ausreichende öffentliche Finanzierung demokratischer Hochschulen. Sie ist Voraussetzung für unabhängige und kritische Wissenschaft. Wie kann es sein, dass die Banken immer mehr Milliarden bekommen, während zugleich überall, auch im Bildungsbereich, gekürzt wird?

ver.di PUBLIK | Im Sommer gab es viele phantasievolle Aktionen, jetzt erscheint alles deutlich trockener. Ist die Luft bei den Streiks nicht schon etwas raus?

Sepehrnia | Nein, im Gegenteil. Dahinter stehen viel mehr junge Leute, als direkt an den Aktionen beteiligt sind. Man muss berücksichtigen, dass das neue Studiensystem mit sehr, sehr scharfen Restriktionen verbunden ist. Schnell fliegt man aus einem Kurs, kriegt eine schlechte Note, muss mehr Studiengebühren zahlen oder wird exmatrikuliert. Deshalb gucken viele hoffnungsvoll, aber zunächst passiv auf die Proteste.

ver.di PUBLIK | Die Politiker zeigen schon Verständnis für Eure Anliegen. Wird sich jetzt schnell etwas ändern?

Sepehrnia | Viele Politiker versuchen zu beschwichtigen. Sogar die CDU gibt jetzt zu, dass bei der Einführung von Bachelor und Master wohl etwas überzogen worden ist. Die Kultusministerkonferenz hat festgestellt, dass Studiengebühren möglicherweise tatsächlich sozial selektiv sind. Es gibt hier also leichte Bewegungen. Aber auch wenn es Unterschiede zwischen den Parteien gibt, so geht es fast nur um Formales. Mir scheint es auf eine Zuspitzung des Konflikts zuzulaufen. Immer mehr Studierende sehen ihr gemeinsames soziales Interesse, und viele beginnen zu begreifen, wie man sich organisiert.

ver.di PUBLIK | Wie macht Ihr jetzt konkret weiter?

Sepehrnia | Hier in Hamburg wollen wir als erstes die Studiengebühren bis zum Anfang des kommenden Semesters weg haben. In Hessen wurden sie ja schon abgeschafft und nach den Landtagswahlen ist die Abschaffung im Saarland beschlossen. In Schleswig-Holstein hat die CDU sogar Wahlkampf damit gemacht, dass sie auf Studiengebühren verzichten will. Hier in Hamburg müssen wir zur Zeit 375 Euro pro Semester zahlen. Im vergangenen Jahr haben wir sie bereits von 500 Euro heruntergekämpft, jetzt müssen sie ganz abgeschafft werden. Dabei geht es nicht nur ums Geld: Studiengebühren lenken das Verhalten der Studierenden, indem sie sie zu einem schnellen Abschluss antreiben.

ver.di PUBLIK | Ihr fordert also, so lange studieren zu können, wie Ihr Lust habt?

Sepehrnia | Das kann man so sagen. Vor allem fordern wir, dass jeder studieren können soll, weil wissenschaftliche Bildung zunehmend eine wichtige Voraussetzung ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wir führen unseren Kampf für gebührenfreie Bildung deshalb auch solidarisch mit Gewerkschaften, Jugendverbänden, kritischen Bildungs-Initiativen und Schülern, weil Bildung für alle gebührenfrei sein muss: von der Kita bis zur wissenschaftlichen Weiterbildung.

ver.di PUBLIK | Aber die Universitäten müssen durch Steuergelder finanziert werden. Kann die Gesellschaft nicht erwarten, dass die Studierenden irgendwann mal fertig werden?

Sepehrnia | Wer längere Zeit studiert, ist oft gesellschaftlich engagiert und leistet einen unschätzbaren Beitrag zur Demokratie. Weit über 70 Prozent der Studierenden sind erwerbstätig. Aber auch diejenigen, die keine Einkommenssteuer zahlen, finanzieren den Staat durch die Mehrwertsteuer mit.

Interview: Annette Jensen

Unterschriften gesucht

Die Hamburger Studierenden wollen bis zum 29. Januar mindestens 60 000 Unterschriften von Leuten gesammelt haben, die ihre Forderung nach Abschaffung der Studiengebühren unterstützen. Mitmachen können auch Personen, die nicht in der Hansestadt wohnen. www.gebuehrenfreiheit.de