Glückliches Rindvieh oder gequälte Kreatur?

Du bist, was du isst? Kaum ein Thema birgt mehr Aufregung als die Debatte über die richtige Ernährung. Wenige Fragen wurden im letzten Bundestagswahlkampf so emotional diskutiert wie der Vorschlag der Grünen, in öffentlichen Kantinen einen fleischfreien Tag einzuführen. Von Verbotsrepublik und grüner Umerziehung war die Rede, als gebe es ein Grundrecht auf tägliche Schweinshaxn und als ob die Partei zur Zwangsveganisierung ganzer Bevölkerungsteile aufgerufen hätte.

Gegrilltes Huhn schmeckt vielen, und auch ihre Schnitzel mögen sie sich nicht nehmen lassen; das ist Fakt. Allerdings gibt es auch viele andere Fakten - und die machen es schwer, noch mit Genuss an den Sonntagsbraten zu denken. Die wichtigsten von ihnen versammelt der Fleischatlas 2014, ein gemeinsamer Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung, des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (BUND) und der Zeitung Le Monde diplomatique. Er beschreibt die Folgen der weltweit wachsenden Nachfrage nach Fleisch: Sie sind verheerend.

Immer mehr und mehr

Von heute 320 auf 470 Millionen Tonnen wird die globale Fleischproduktion bis 2050 steigen, prognostizieren die Forscher. In den neuen Mittelschichten Chinas, Indiens, Brasiliens, Russlands und Südafrikas wächst die Lust auf Fleisch, das auch als Statussymbol gilt. Der Verbrauch in diesen Staaten nahm von 2003 bis 2012 um 6,3 Prozent zu, in den kommenden Jahren soll er nochmals um 2,5 Prozent wachsen. In Europa und den USA stagniert er zwar, aber auf hohem Niveau. Jede/r Deutsche verzehrt im Jahr durchschnittlich 60 Kilo Fleisch, Amerikaner kommen auf 75 Kilo pro Kopf.

Um all die Tiere ernähren zu können, die der Mensch essen will, braucht man riesige Flächen. Rund 70 Prozent der weltweiten Äcker und Weiden werden heute für die Nutztierhaltung beansprucht, schätzt der UN-Weltagrarbericht. Land, das nicht mehr zur Verfügung steht, um Nahrungsmittel für Menschen anzubauen. Europa verfüttert fast die Hälfte seiner Weizenernte an die Schlachttiere, weltweit landen 40 Prozent der Ernte an Weizen, Roggen, Hafer und Mais in den Futtertrögen.

Die Zucht der Tiere ist längst eine gigantische Industrie. Allein in Deutschland werden jährlich 750 Millionen Tiere geschlachtet. Die US-Gesellschaft Tyson Foods, das zweitgrößte Fleischunternehmen der Welt, schlachtet 42 Millionen Hühner, 350 000 Schweine und 170 000 Rinder pro Woche. Zuvor werden die Tiere mit Antibiotika und Hormonen behandelt. Mit Nebenwirkungen nicht nur für die Tiere, die Mittel gelten auch bei Menschen als krebsfördernd und erbgutschädigend.

Und die Alternativen?

All das sind Fakten, über die viele Menschen Bescheid wissen. So sind nach einer Studie der Universitäten Göttingen und Hohenheim rund 60 Prozent der Deutschen dazu bereit, weniger Fleisch zu essen, weil das gesünder sei, dem Tierschutz diene und positive Folgen für die Ressourcen der Erde und den Klimawandel habe. Und doch leben nur 3,7 Prozent der Bevölkerung fleischlos. Knapp zwölf Prozent gelten als Flexitarier, also Menschen, die bewusst wenig Fleisch essen.

Für eine Reduktion des Fleischkonsums gebe es verschiedene Barrieren, erklärt Achim Spiller, Professor für Marketing für Lebensmittel und Agrarprodukte an der Universität Göttingen. Häufig sei das Essverhalten von langjährigen Gewohnheiten geprägt. "Fleisch ist für viele Konsumenten traditionell ein fester Bestandteil von Mahlzeiten. Die Ernährungsmuster gehen häufig bis in die Kindheit zurück." Sie zu ändern sei schwierig und erfordere Zeit.

Daniel Kofahl, Soziologe an den Universitäten Kassel und Trier und Leiter des Büros für Agrarpolitik und Ernährungskultur, sagt, dass Fleisch noch immer als Prestige-Essen gelte, das zeige ein Blick "auf beinahe jede Restaurantkarte in der gehobenen Gastronomie". Das Bekenntnis zum Fleischverzicht habe sich zwar "im Mainstream seinen festen Platz erobert", werde aber nur von wenigen praktiziert. Dass viele Menschen betonten, bewusst wenig Fleisch zu essen, sei "zunächst einmal etwas, um das persönliche Gewissen mit einer bevorzugten Ernährungsmoral in Einklang zu bringen und sich individuell zu entlasten". Um einen wirklich signifikanten ökologischen Effekt zu erzielen, brauche es jedoch politische und rechtliche Regelungen auf höherer Ebene.

Dafür plädieren auch die Macher des Fleischatlas. Niemand, der das nicht wolle, müsse vollkommen auf Fleisch verzichten, sagt Christine Chemnitz, Referentin der Heinrich-Böll-Stiftung. Es sei aber sinnvoll, sich Anregungen für eine gute Tiermast aus der Ökolandwirtschaft zu holen und als Käufer/in Biofleisch zu bevorzugen. Das sei zwar teurer als die Billigware, aber halt der "Preis, den es kostet, wenn wir die schlimmen Folgen der industriellen Fleischproduktion nicht auf die Tiere, die Umwelt und alle Bevölkerungsgruppen abwälzen wollen."

Das Buch zum Fleisch

Der Fleischatlas ist in diesem Jahr zum zweiten Mal erschienen. Die Auflage des ersten Bandes (2013) liegt inzwischen bei mehr als 110 000 Exemplaren.

Der Fleischatlas 2014 stellt die Auswirkungen der industriellen Fleischproduktion in den Mittelpunkt.

Fleischatlas 2014 mit 52 Seiten und Fleischatlas-App auf www.boell.de/fleischatlas