Heidemarie Gerstle ist ver.di-Landesfrauen- sekretärin in Berlin-Brandenburga

ver.di PUBLIK | Was hat sich nach der Konferenz des Landesfrauenrates Berlin-Brandenburg zum Thema Gewalt gegen Beschäftigte getan?

HEIDEMARIE GERSTLE | Viele Frauen und Männer, gerade in Verwaltungen, haben zum ersten Mal öffentlich über das Thema nachgedacht und wollen es jetzt nicht mehr hinnehmen, wenn sie in ihrem beruflichen Alltag Gewalt ausgesetzt sind. Auch verbale Attacken nehmen jetzt viele ernster als zuvor. Arbeitgeber wollen psychische Bedrohungen oft kleinreden, aber auch diese Attacken zählen als Angriff und sollten der Berufsgenossenschaft gemeldet werden. Das ist vielen erst auf der Tagung bewusst geworden. In einer großen Berliner Behörde hat die Frauenvertreterin einen Fragebogen entwickelt und an 6000 Beschäftigte geschickt. Sehr viele - 1165 Menschen, 987 davon Frauen - haben ihn ausgefüllt und zurückgeschickt. Das Thema war ihnen also wichtig. ver.di

ver.di PUBLIK | Was kam dabei heraus?

GERSTLE | Fast ein Drittel ist schon von Kunden bedroht und/oder beschimpft worden. Mehr als 93 Prozent halten einen Notfallknopf in den Arbeitsräumen wegen einer möglichen Bedrohung für sinnvoll. Auch 37 Männer geben an, dass sie schon in einer Situation waren, in denen ihnen ein Notfallknopf geholfen hätte. Dass Vorgesetzte oft glauben, in Behörden und Ämtern träfe das Gewaltproblem nur wenige Beschäftigte, ist also ein Irrtum. Ein Notfallknopf sollte bundesweit eingeführt werden, damit wäre schon viel getan. Dieser Fragebogen war erst ein Anfang. Das Thema macht Betroffenen und Vorgesetzten Angst. Im ersten Augenblick fühlt man sich nach einer Gewalterfahrung ohnmächtig. Viele Außenstehende sagen dann: Hätte die Kollegin sich anders verhalten, dann wäre ihr das nicht passiert. Oder: Mir wäre es nicht geschehen. Aber damit irren sie sich.

ver.di PUBLIK | Was brauchen die Frauen und Männer, die im öffentlichen Dienst arbeiten, zu ihrer Unterstützung?

GERSTLE | Sie müssen wissen, wie sie sich schützen können, und was sie der Reihe nach tun sollten, wenn sie angegriffen werden. Dafür braucht man ein Konzept aus einem Guss - und so etwas gibt es seit Herbst 2009 im Berliner Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Das Konzept entspricht auch den EU-Richtlinien und fängt mit scheinbar einfachen Dingen an. Eine Frage an Beschäftigte in Ämtern mit Publikumsverkehr ist zum Beispiel, wie schnell sie aus ihrem Büro rauskämen, wenn jemand sie bedroht oder zum Schlag ausholt. Fragt man sie das, sieht man förmlich, wie das Rattern im Kopf beginnt. Dann folgt Schulterzucken. Zwischen der Tür und den Kolleg/innen stehen Schreibtische - Flucht wäre ausgeschlossen. Umräumen ist also angesagt.

ver.di PUBLIK | Was plant Ihr in Berlin und Brandenburg als nächstes?

GERSTLE | Im Herbst laden wir Personalräte und Frauenvertreterinnen aus den Verwaltungen zur nächsten Tagung ein. Unser Thema: Wie kann man sich in Behörden schützen? Ich denke, das Konzept aus Friedrichshain-Kreuzberg sollte landesweit genutzt werden. Interview: Claudia von Zglinicki

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"Mehr als 93 Prozent halten einen Notfallknopf in den Arbeitsräumen wegen einer Bedrohung für sinnvoll"