Zwischen Hetze und Stress

Arbeit kann krank machen. Aber: Arbeitsschutz ist Arbeitgeberpflicht. Gewerkschaften verschreiben deshalb eine Anti-Stress-Verordnung. Die Arbeitgeber sperren sich noch dagegen

In der Abwärtsspirale: Zeitdruck, Arbeitsverdichtung und psychische Belastung

Die Aktenstapel auf dem Schreibtisch wachsen, in immer schnellerem Takt klingelt das Handy und erinnert an den nächsten Termin, wenn der vorige noch längst nicht vorbei ist. Das kennen viele. Ständige Arbeitsverdichtung und Zeitmangel sind psychische Belastungen am Arbeitsplatz, die die Gesundheit der Beschäftigten gefährden und zu ernsten Erkrankungen führen können. Neu ist das Problem nicht, in den vergangenen Jahren wurde vor allem vom Burnout berichtet, erst als "Managerkrankheit", dann auch als Gefahr für die Allgemeinheit. Aber das Problem reicht viel weiter zurück: Schon ab 1880 machte der New Yorker Nervenarzt George M. Beard den Begriff "Neurasthenie" für "Nervenschwäche" bekannt.

Die Ursachen für Krankheiten infolge seelischer Belastungen, sind heute sicher andere: Fließende Übergänge von den Arbeitsstunden zur Freizeit, die ständige Erreichbarkeit per E-Mail und Handy zählen zu den Faktoren, die dauerhaft von der Belastung zur Überlastung führen können.

Doch es gibt durchaus betriebliche Instrumente, um die Beschäftigten nicht nur vor körperlichen, sondern auch vor psychischen Belastungen zu schützen. Und das ist nicht nur im Interesse der Beschäftigten, das steht nicht nur im Fokus von Betriebs- und Personalräten, auch Arbeitgeberverbände und die Politik haben das Problem inzwischen erkannt. Fehlzeiten kosten die Betriebe, aber auch das Gesundheitssystem, hohe Summen. Sicher, nicht jede Krise ist gleich eine psychische Erkrankung, nicht jede Niedergeschlagenheit gleich eine Depression. Doch psychische Belastungen können vor allem bei langer Dauer zu psychischen und körperlichen Erkrankungen führen.

Alarmierend hohe Zahlen

So listet der Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen (BKK) für das Jahr 2013 pro 100 erwerbstätigen BKK-Pflichtmitglieder volle 228 Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Störungen auf.

Die BKK-Statistik für die Erwerbstätigen zeigt auch: Frauen sind stärker von psychischen Krankheiten betroffen als Männer, ebenso einzelne Berufsgruppen, zum Bespiel Beschäftigte aus dem Gesundheits- und Sozialwesen, aber auch aus dem Bereich der Postdienstleistungen. Zumindest werden sie öfter von der Statistik erfasst. Ursache für den Bezug von Krankengeld waren bei den beschäftigten BKK-Mitgliedern zu 23,1 Prozent psychische Störungen.

DGB und Arbeitgeber wollen das Problem angehen

Das sind Zahlen, die auch die Arbeitgeberverbände alarmieren. Im vergangenen Jahr hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gemeinsam mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Erklärung abgegeben, in der es heißt, sie hätten das Problem nicht nur erkannt, sondern wollten es auch offensiv angehen. "Auch aus unternehmerischer sowie volkswirtschaftlicher Sicht sind die Konsequenzen erheblich", heißt es in der Präambel. "Psychische Erkrankungen mindern das Leistungsvermögen der betroffenen Beschäftigten, verursachen inzwischen etwa 13 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage und stellen mittlerweile die häufigste Frühverrentungsursache dar." Auch der volkswirtschaftliche Schaden sei immens. Auf knapp 29 Milliarden Euro schätzt das Statistische Bundesamt nach letzten Zahlen die Krankheitskosten durch psychische Erkrankungen.

Erste Handlungsansätze stellten die BDA und der DGB auf einer Veranstaltung im März in Berlin vor. "Hetze und Stress gefährden die Gesundheit", sagte Annelie Buntenbach, Mitglied des DGB-Bundesvorstands. Auch "Arbeitsplatzunsicherheit oder die Sorge um die nächste Mietzahlung" gehörten zur "belastenden Lebenssituation von Beschäftigten". Buntenbach betonte: "Arbeitsschutz ist Arbeitgeberpflicht." Sie forderte eine Anti-Stress-Verordnung, dagegen sperren sich die Arbeitgeberverbände jedoch. Um die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz einzugrenzen, ist die Gefährdungsbeurteilung das geeignete Instrument - und sie ist bereits gesetzlich vorgeschrieben. Dabei sollen Betriebsräte, aber auch Betriebsärzte/Betriebsärztinnen, Brandschutzbeauftragte und Fachkräfte für Arbeitsschutz einbezogen werden. Besonders in kleinen Betrieben herrscht oft große Unsicherheit, wie psychische Belastungen erkannt werden können.

Gewerkschaften treten für Anti-Stress-Verordnung ein

Hilfen für die betrieblichen Akteure bietet die Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) unter anderem in ihrer Broschüre Leitlinie - Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz. Die GDA ist ein Bündnis von Bund, Ländern, Unfallversicherungsträgern, Gewerkschaften und Arbeitgebern. In der Broschüre sind Checklisten veröffentlicht, mit denen ermittelt und bewertet werden kann, wie hoch die psychischen Belastungen konkret sind. Abgefragt wird unter anderem, ob ein Beschäftigter Handlungsspielräume in seiner Tätigkeit hat, ob sie abwechslungsreich ist, ihm alle notwendigen Informationen vorliegen, die Aufgaben seiner Qualifikation entsprechen, er also weder unter- noch überfordert wird.

Bei der Tagung von DGB und BDA berichtete Uwe Lehmensiek, Personalratsvorsitzender vom Jobcenter der Region Hannover, von dem Weg, den seine Kollegen aus dem Personalrat zusammen mit dem Arbeitgeber gehen: Sie haben eine gemeinsame Vereinbarung abgeschlossen, ausgehend von der Situation der Beschäftigten. Besonders problematisch seien für sie im Jobcenter nicht nur die Arbeitsmenge, sondern auch die emotionalen Belastungen. Konkret seien das "die Geschichten, die sie hören und auch mit nach Hause nehmen".

Gemeinsame Grundsatzerklärung

Um die Situation zu verbessern, hat es im Jobcenter eine gemeinsame Grundsatzerklärung "Gegen Gewalt" gegeben, aber auch bauliche Veränderungen, zum Beispiel durch neue Fluchttüren, die mehr Sicherheit geben, falls es zu bedrohlichen Momenten für die Beraterinnen und Berater kommt. Zusätzlich erhalten die Beschäftigten ein Deeska- lationstraining und Supervision. Denn die schwierigen Situationen, die emotional belastenden Geschichten, von denen sie immer wieder hören, lassen sich nicht wegzaubern - Unterstützung zu organisieren, ist aber möglich. Damit es gar nicht erst zu psychischen Erkrankungen kommt.

Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA): www.gda-portal.de

Mehr zu der Tagung von DGB und BDA auf https://arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de/ueber-uns/nachrichten/

Gesund trotz Arbeit

Fit sein und fit bleiben - das ist für die Beschäftigten in vielen ver.di-Branchen fast unmöglich. Dabei steht der Traum, lange gesund zu sein, für viele Menschen an erster Stelle ihrer persönlichen Wunschliste. Umso wichtiger ist es, dass Personal- und Betriebsräte gemeinsam mit den Beschäftigten etwas tun für geregelte Pausen, notwendige Schutzkleidung, bessere Dienstpläne und weniger Lärm. Doch ein Grundproblem besteht fast überall: Arbeitskräfte fehlen. Und oft wird auch mehr Geld für den Arbeitsschutz gebraucht. Erfahrungen und Beispiele aus fünf Regionen auf den Seiten G4 - G5

Dass auch die Ernährung zum Gesundbleiben beiträgt, ist kein Geheimnis. Und was essen wir nun? Die Auswahl ist groß: Fleisch oder Gemüse, Körnermüsli oder nur Rohkost? Vieles ist möglich. Alternativen werden auf der Seite G2 diskutiert. Aber wofür Sie sich auch entscheiden, genießen Sie, was Sie essen. Und genießen Sie unsere Gesundheitsbeilage. Claudia von Zglinicki